Zwölf Menschen aus der Oberlausitz erzählen, wie sie die Wendezeit erlebt haben und wie sich ihr Leben in den letzten 35 Jahren verändert hat.
Klicke auf die Punkte in der Karte und entdecke ihre Geschichten.
Das im Jahr 2024 mit Hilfe von Steuermitteln auf der Grundlage des vom Sächsischen Landtag beschlossenen Haushaltes im Rahmen der Initiative Sehnsucht Freiheit durchgeführte Projekt „35 Jahre Wiedervereinigung – Biographien und Perspektiven aus der Oberlausitz“ hatte sich zum Ziel gesetzt, zwölf Interviews mit Menschen aus der Oberlausitz zu führen, die 1989 zwischen sechs und 65 Jahre alt waren. Dabei sollte das soziale und politische Spektrum möglichst breit (vom Funktionär bzw. Anhängern bis hin zu Gegner der SED), und divers abgebildet werden. Ein weiteres Kriterium bei der Auswahl der Akteure war eine die möglichst gleichmäßige Verteilung aus urbanen und dörflichen Räumen sowie aus allen geographischen Ecken der Oberlausitz.
Die deutsche Wiedervereinigung – und der ihr vorausgehende Fall der Mauer – ist neben dem Umgang mit dem Nationalsozialismus das zentrale Narrativ der Berliner Republik und wird spätestens alle fünf Jahre groß gefeiert. Während die Jahre 1989/90 in vielen Großstädten – allen voran der Hauptstadt selbst – sowie in Sachsen in den urbanisierten Mobilisierungszentren der friedlichen Revolution, Leipzig, Dresden oder auch Chemnitz (Karl-Marx-Stadt), zum Teil sogar minutiös historisch erforscht sind, sieht das mit Blick auf die ländlichen Regionen wie der Oberlausitz anders aus.
Anders als über die Zeit des Nationalsozialismus, über die immer weniger Zeitzeugen berichten können, gibt es über die letzten Jahre der DDR zahlreiche Menschen, die darüber erzählen können. Aufgrund des hohen Durchschnittsalters in der Region wirkt diese Zeit dort noch stärker prägend nach, fast so, als wäre es gestern gewesen, da ein Großteil der Menschen im realsozialistischen Arbeiter- und Bauernstaat aufgewachsen und sozialisiert wurde. Da die Geschichtsschreibung der Oberlausitz darüber hinaus immer noch in den 1990er Jahren mit dem vermeintlichen „Ende der Geschichte“ aufhört, war und ist es spannend zu erforschen wie diese Menschen die letzten 35 Jahre in der Berliner Republik, ausgehend vom Fall der Mauer 1989 und der deutschen Wiedervereinigung, aus dem Blickwinkel des Jahres 2024 sehen. Diese Geschichte und Geschichten können Sie auf diesen Seiten nachlesen. Hinweise und Anregungen zur Thematik nehmen wir gerne unter svenbrajer@web.de entgegen. Hier erhalten Sie auch die dazugehörige Broschüre mit allen Interviews gegen eine Versandgebühr von 2,90 €.
Ich bin promovierter Historiker, freier Journalist sowie gelernter Einzelhandelskaufmann. Ich stamme aus der Oberlausitz, habe in Göttingen und lange in Dresden gelebt, wohne derzeit in Berlin und Görlitz und interessiere mich für allerhand Dinge:
Deutsche und europäische Sozial-, Kultur- und Wirtschaftsgeschichte des 19.-21. Jahrhunderts
Revolutionsforschung
Geopolitik mit Schwerpunkt Mittel- und Osteuropa
aktuelle (finanz-)politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklungen, besonders Parteien und Bewegungen
Makrosoziologie
Kommunikationswissenschaft (besonders die Funktion und Funktionsweise von Propaganda)
Edelmetalle und historische Münzen
Kryptowährungen
Libertarismus
Sport
Seit dem 22. April 2023 bin ich Vizepräsident der Oberlausitzischen Gesellschaft der Wissenschaften e.V.
Sven Brajer im Görlitzer Ratsarchiv, Foto: Jérôme Depierre, 2024
Erleben Sie spannende Einblicke in 35 Jahre Wiedervereinigung aus der Perspektive der Oberlausitz. Bei der Podiumsdiskussion mit Experten und Zeitzeugen werden persönliche Geschichten, gesellschaftliche Entwicklungen und zukünftige Perspektiven beleuchtet. Seien Sie dabei und diskutieren Sie mit!
mit Roland Dantz, Prof. Dr. Maik Hosang und Joachim Herrmann (Moderation: Dr. Sven Brajer)
Wann:
6. März, 18.30 Uhr
Wo:
Aula, Geschwister-Scholl-Gymnasium-Löbau
Katja Adler: Rolle rückwärts DDR? Wie unsere Freiheit in Gefahr gerät, München 2024.
Joachim Amm/ Lars-ArneDannenberg/Matthias Donath/ Dirk Martin Mütze: Die Verwandlung des Landes. Ländlicher Raum in Sachsen, in: Sächsische Heimatblätter 66 (2020), Heft 1, S.1–4.
Joachim Bahlcke: Geschichte der Oberlausitz. Herrschaft, Gesellschaft und Kultur vom Mittelalter bis zum Ende des 20. Jahrhunderts, Leipzig 2001.
Christian Bochwitz /Albrecht Naumann (Red.): Deutsche Einheit. 20 Jahre Friedliche Revolution in Görlitz. Dokumentation der Ausstellung und des Symposiums zur Friedlichen Revolution in Görlitz, 1989–2009, Görlitz 2010.
Marcus Böick: Die Treuhand. Idee – Praxis – Erfahrung 1990–1994, Göttingen 2018.
Sven Brajer: Parteiendämmerung: Die große Enttäuschung im Spiegel apokalyptischer Zeiten, in: Im Osten. Perspektiven wider den Zeitgeist vom 22. Dezember 2024, https://imosten.org/2024/12/22/parteiendaemmerung-die-grosse-enttaeuschung-im-spiegel-apokalyptischerzeiten/ [31.12.2024]
Sven Brajer: „Eine Kampfansage […] an die gegenwärtige Staatsform“. Eindrücke vom Krisen- und Inflationsjahr 1923 in der Oberlausitz, in: Neues Lausitzisches Magazin 145/146 (2024), S.177–188.
Sven Brajer im Interview mit der Katholischen Sonntagszeitung: Ost und West 35 Jahre nach dem Mauerfall. Historiker im Interview: Die Kluft ist tiefer geworden, https://www.katholische-sonntags-zeitung. de/historiker-im-interview-die-kluft-ist-tiefer-geworden-571903/ [31.12.2024].
Sven Brajer: Scholz‘ „Zeitenwende“ und die Prager „Grundsatzrede“: Frieden Schaffen mit deutschen Waffen?, in: Im Osten. Perspektiven wider den Zeitgeist vom 1.9.2022, https://imosten.org/tag/zeitenwende/ [31.12.2024].
Sven Brajer / Johannes Schütz: Old Concepts in Changing Societies? Continuities and Transformation of Nationalism in East Germany, 1871–2019, in: Frank Jacob/Carsten Schapkow (Hrsg.): Nationalism in a Transnational Age, Berlin/München 2021.
Sven Brajer: Aufstieg und Fall der Oberlausitzer Industriedörfer 1834 bis 2019. Ein Überblick mit Forschungsanregungen, in: Sächsische Heimatblätter 66 (2020), Heft 2, S.173–176.
Rainer Eckert: Umkämpfte Vergangenheit. Die SED-Diktatur in der aktuellen Geschichtspolitik der Bundesrepublik Deutschland, Leipzig 2023.
Francis Fukuyama: The End of History and the Last Man, New York 1992.
Vladimiro Giacché: Anschluss: Die deutsche Vereinigung und die Zukunft Europas, Hamburg 2014.
Görlitzer Herbst – 30 Jahre friedliche Revolution, https://www.engagiertestadt.de/2020/11/03/goerlitzer-herbst-30-jahre-friedliche-revolution-und-deutsche-einheit/ [30.12.2024]
Matthias Herrmann (Red.): Kamenz 1989–1995. Aus der Chronik des Weges zum geeinten Deutschland, Kamenz 1996.
Maik Hosang/Gerald Hüther (Hrsg.): Die Metamoderne. Neue Wege zur Entpolarisierung und Befriedung der Gesellschaft, Göttingen 2024.
Ulrich Joho: Tod einer Textilindustrie, https://www.fotogemeinschaft.de/tod-einer-textilindustrie/465/ [28.12.2024]
Rolf Rüdiger Knoll: Deindustrialisierung oder Aufschwung Ost? Der Strukturwandel in Ostdeutschland und die Rolle der Treuhandanstalt am Beispiel des Landes Brandenburg, in: Dierk Hoffmann (Hrsg.): Die umkämpfte Einheit. Die Treuhandanstalt und die deutsche Gesellschaft, Berlin 2022, S.183–244.
Ilko-Sascha Kowalczuk: Freiheitsschock: Eine andere Geschichte Ostdeutschlands von 1989 bis heute, München 2024.
Ilko-Sascha Kowalczuk: Die Übernahme: Wie Ostdeutschland Teil der Bundesrepublik wurde, München 2019.
Lausitzer Almanach e.V., Sonderausgabe V, Kamenz 2021.
Steffen Mau: Ungleich vereint. Warum der Osten anders bleibt, Berlin 2024.
Hans-Joachim Maaz: Das gespaltene Land: Ein Psychogramm, München 2020.
Sabine Michel und Dörte Grimm: Es ist einmal. Ostdeutsche Großeltern und ihre Enkel im Gespräch, Berlin 2024.
Christina Morina: Tausend Aufbrüche. Die Deutschen und ihre Demokratie seit den 1980er Jahren, München 2023.
Daniel Niemetz: Staatsmacht am Ende. Der Militär- und Sicherheitsapparat der DDR in Krise und Umbruch 1985 bis 1990, Berlin 2020.
Dirk Oschmann: Der Osten: eine westdeutsche Erfindung, Berlin 2023.
Bettina Renner: Bautzen im Dazwischen: Vom Ende der DDR zum Aufbruch in eine neue Zeit, Leipzig 2022.
Michael Richter: Die Friedliche Revolution. Aufbruch zur Demokratie in Sachsen 1989/90, 2Bde. Göttingen 2009.
Peter Richter: 89/90, München 2017.
Katrin Rohnstock: »Lausitz an einen Tisch, 2015/16, https://www.rohnstock-biografien.de/erzahlprojekte/lausitz-an-einen-tisch/ [30.12.2024]
Andreas Schönfelder / Julia Böske: „Aufbruch 89“ in der Oberlausitz: erste große Veranstaltung des Neuen Forums am 19.10.1989 in drei Zittauer Kirchen, Dresden 2020.
Swen Steinberg: Die Oberlausitz von 1815 bis in die Gegenwart, in: Winfried Müller (Hg.): Oberlausitz (Kulturlandschaften Sachsens 4), Leipzig 2011, S.97–140.
Johannes Stemmler (Hrsg.): Wir machen das schon. Lausitz im Wandel, Berlin 2021.
Jan Wenzel: Das Jahr 1990 freilegen, Leipzig 201
Dr. Sven Brajer
Oberlausitzische Gesellschaft der Wissenschaften e.V., i.V. Dr. Sven Brajer
Neißstraße 30, 02826 Görlitz
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1.
Wann und wo sind Sie geboren und aufgewachsen?
Ich wurde am 30. März 1950 in Königsbrück in dem Haus, in dem ich immer noch wohne, geboren. Ich bin sehr bodenständig, außer der Armeezeit (1 ½ Jahre bei den Luftstreitkräften in Jänschwalde) und der Studienzeit in Freiberg (1970-1975) habe ich immer in Königsbrück gewohnt.
2.
Was haben Sie am 9. November gemacht? Haben Sie diesen Tag bewusst erlebt? Hat sich Ihr Leben in den nächsten Wochen und Monaten stark verändert?
Am 4. November 1989 fand auf dem Rathaussaal in Königsbrück eine Gesprächsrunde mit Vertretern des Rates des Kreises statt. Es waren so viele Leute da (der Rathaussaal fast ca. 120 Personen), dass viele davor und auf der Treppe ausharren mussten. Als der Vorsitzende vom Rat des Kreises die gemachten Fehler verharmlosen wollte und das Bibelzitat brachte: ‚Wer ohne Sünde ist, werfe den ersten Stein‘, ging ein Tumult im Saal los, der zum Abbruch der Veranstaltung führte. Es wurde vereinbart, dass eine weitere Veranstaltung am 9. November auf dem Markt stattfinden sollte, da mit sehr vielen Menschen gerechnet wurde.
Am Abend des 9. November (einem Donnerstag) hatten sich mehrere Hundert Menschen vor dem Rathaus versammelt. Von einer provisorischen Bühne (LKW-Ladefläche) sprachen mehrere Redner (Bürgermeister, Vertreter des RdK, Gewerbetreibende, Chef des Institutes für Luftfahrtmedizin (hier wurde Sigmund Jähn vor seinem Weltraumflug ausgebildet)). Diese Veranstaltung verlief relativ friedlich, natürlich gab es Zwischenrufe, aber durch die doch recht kritischen Reden, auch von der Staatsmacht, waren die meisten auf dem Markt zufrieden. Niemand hatte ein Radio dabei, so dass keiner auf dem Markt von der Grenzöffnung etwas mitbekam.
Mit einigen Freunden bin ich vom Markt in die Gaststätte Ziegler gegangen und wir haben den Abend bei einigen Bierchen ausklingen lassen. So gegen 22.00 Uhr bin ich nach Hause und habe, wie meist in dieser Zeit, versucht, Tagesthemen zu schauen. Es muss ‚versucht‘ heißen, denn das ‚Westbild‘ war nicht immer zu erkennen, oft viel Gries auf dem Bildschirm. Aber am 9. November ging es: Es war das Brandenburger Tor zu erkennen durch das ein Blitz ging. Ich habe mehrere Minuten gebraucht, um zu begreifen, was gerade passiert ist. Und dann kullerten die Freudentränen.
Meine damalige Frau war an diesem Tag gerade in Westberlin. Ihre Eltern (der Vater Pfarrer) waren Ende der 70er Jahre nach Westberlin ausgereist. Ihre Mutter hatte gerade eine Operation hinter sich und da bekam die Tochter ein 30-Tage-Visum, mit dem sie bei Bedarf einige Tage im Haushalt der Eltern helfen konnte. Aber Tochter und Eltern waren an diesem Abend zeitig zu Bett gegangen und haben somit erst am nächsten Morgen von der Grenzöffnung erfahren.
Ich arbeitete damals im Glaswerk Bernsdorf (ich war übrigens nicht einen Tag arbeitslos). Die Maueröffnung war natürlich auch hier das bestimmende Thema. An diesem Freitag habe ich nur bis Mittag gearbeitet und bin dann nach Kamenz zum Volkspolizeikreisamt gefahren, um ein Visa zu bekommen. Die Schlange der Menschen auf der Poststraße reichte bis hinunter zur Haberkornstraße. Nach mehreren Stunden in einer fröhlichen Wartegemeinschaft hatte ich mein Visum in der Hand.
Nun schnell noch zur Klassenleiterin meiner beiden schulpflichtigen Kinder, denn ich wollte am Sonnabend (damals war Sonnabend noch Schule) nach Westberlin zu Frau und Großeltern fahren. Die Schulbefreiung war kein Problem, eine Lehrerin meinte, ich solle sehr zeitig losfahren, denn die Autobahn sei sicher voll. Ich machte mich gegen 3.00 Uhr auf den Weg, auf der Autobahn war wenig Betrieb; am Grenzübergang Rudower Chaussee waren drei Autos vor mir. So kamen wir ca. 5. Uhr in Lichtenrade bei den Großeltern an. Bis 6 Uhr haben wir noch gewartet, weil wir sie nicht zu zeitig wecken wollten. So neu war für uns Westberlin nicht, da wir ja erst im August 1989 zu Opas Geburtstag hier waren.
In den nächsten Wochen und Monaten hat sich unser privates Leben kaum verändert, da wir schon immer relativ viel Westkontakt hatten und auch Westfernsehen im bescheidenen Umfang möglich war.
Im Betrieb gaben sich in den kommenden Monaten die Westberater die Klinke in die Hand; ich kann sagen, dass es viele ehrlich meinten.
Im Frühjahr 1990 wurde das Glaswerk Bernsdorf vom Konzern Gerresheimer Glas in Düsseldorf übernommen, mit dem es viele Jahre eine fruchtbare Zusammenarbeit gab. Heute gibt es das Glaswerk immer noch, gehört aber zu Owen Illinois (USA). Von ehemals ca. 600 Beschäftigten zu DDR-Zeiten produzieren heute ca. 100 Leute mehr Glas.
3.
3. Oktober 1990: Konnten Sie die Chancen im wiedervereinigten Deutschland nutzen? Gab es bei Ihnen oder Ihren Umfeld wirtschaftliche Verwerfungen (Stichwort: „Treuhand“?)
Mit der ersten freien Kommunalwahl wurde ich im Mai 1990 Stadtrat des ‚Neuen Forum‘. Ich arbeitete u.a. in der Arbeitsgruppe ‚Konversion‘ mit, in der es um eine Zusammenarbeit mit der sowjetischen Besatzungsmacht ging. Hier hatten wir sehr vernünftige Partner mit Oberstleutnant Sgilow als Stadtkommandant und Oberst Chomotow als Kommandant des Truppenübungsplatzes. Wir erreichten, dass bis Ende 1990 die Kommandantur vom Markt ins ‚Neue Lager‘ zog und das ‚Alte Lager‘ im Stadtinnern aufgelöst wurde. Auch das Großkaliberschießen auf dem Truppenübungsplatz wurde deutlich reduziert.
Ich werde nicht vergessen, als der Stadtkommandant bei einer kleinen Feierstunde im Rathaus in der Nacht vom 3./4. Oktober 1990 uns zur ‚Deutschen Einheit‘ gratulierte und Tränen in den Augen hatte.
Am 1.Oktober 1993 wurde ich Geschäftsstellenleiter des Abwasserzweckverbandes Königsbrück, was ich bis zu meinen Ausscheiden in den Ruhestand am 31. Juli 2015 blieb. Die Kläranlage in Königsbrück mit 9000 Einwohnergleichwerten war das erste private Betreibermodell im Osten Deutschlands. Die Hauptfederführung hatte ein Unternehmen aus Dresden, dessen Chef Siedlungswasserwirtschaft an der TU Dresden studiert hatte. Dadurch blieben die Planziele immer realistisch und wir haben keine zu groß dimensionierte Kläranlage gebaut. In der Zeit der Planung und des Baues der KA hatte ich mit vielen westdeutschen Unternehmern und Vertretern von Unis Kontakt, aber immer auf Augenhöhe. Uns hat niemand über den Tisch gezogen. Aus meiner Sicht kann ich heute sagen, dass ich die Chancen im wiedervereinigten Deutschland nutzen konnte.
Anders sieht es bei meiner jetzigen Frau aus (1993 hatte sich meine damalige Frau von mir getrennt und 1996 habe ich wieder geheiratet). Meine Frau hat zu DDR-Zeiten beim Holzhandel Dresden gearbeitet. Dieser hatte viele Filialen in ganz Sachsen. Nach der Wende wurde der Holzhandel von der Treuhand Berlin abgewickelt. Dabei ging nicht alles mit rechten Dingen zu und die Grundstücksfiletstücke wurden verschachert. Übrigens war der Chef meiner Frau nach der Wende der letzte Stasichef von Dresden, Oberst Köhler (ein guter Freund von Putin), der meine Frau dann 1995 entlassen hat. Durch einen Bekannten haben wir erfahren, dass das Statistische Landesamt in Kamenz zur Wohnraumzählung noch Mitarbeiter sucht und so erhielt meine Frau mehrmals einen befristeten Arbeitsvertrag und war bis zum Ruhestand hier beschäftigt. Dadurch, dass ich überhaupt nicht arbeitslos war und meine Frau nur eine kurze Zeit und wir beide relativ gut verdient haben, können wir mit unserer derzeitigen Rente recht zufrieden sein.
4.
Wie sehen Sie heute nach 35 Jahren Mauerfall die aktuelle BRD?
1990 bestand die Möglichkeit aus zwei Teilen Deutschlands ein gemeinsames gutes Ganzes zu machen. Dazu hätte man aber im Westteil bereit sein müssen, auch etwas verändern zu wollen. Aber im Westen blieb alles, wie es war und der Osten musste sich auf unglaublich viel Neues einstellen, was natürlich auch nicht alles schlecht war.
Wir haben im Urlaub mal einen ehemaligen Mitarbeiter des Verkehrsministeriums Schleswig-Holstein kennengelernt, der bei der Ausarbeitung des Einigungsvertrages mitgearbeitet hat. Der meinte, die Straßenverkehrsordnung der DDR wäre viel besser gewesen als die der BRD, aber Kohl wollte die BRD-Ordnung der DDR überstülpen. So blieb nur der ‚Grüne Pfeil‘. Sicher übertrieben, aber man hätte mehr, was bei uns funktioniert hat, übernehmen können. So fühlen sich viele im Osten abgehangen und nicht ernst genommen. Das hilft natürlich der AfD, die angeblich die Sorgen der Menschen versteht.
Die Übernahme demokratischer Strukturen sehe ich natürlich positiv, allerdings müssen wir heute aufpassen, dass da nichts verloren geht.
Die Erstarkung bes. des rechten Randes macht mir Sorgen. Aber es gibt Ursachen, an denen die etablierten Parteien nicht ganz unschuldig sind. Wäre der damalige sächsische Ministerpräsident zu Beginn von Pegida bereit gewesen, mit den Leuten zu reden, wäre Pegida nicht so stark geworden. Michael Kretschmar ist da heute der richtige Mann, der auf die Menschen zugeht. Ich bin mir momentan auch nicht so ganz sicher, ob es richtig ist, sämtliche Zusammenarbeit mit der AfD abzulehnen. So wird diese immer mehr in die Märtyrerrolle gedrängt. Auch kann man nicht einfach den Wählerwillen von 1/3 ignorieren, die sind nicht alle rechts. Um die AfD nicht noch stärker werden zu lassen, muss es eine Auseinandersetzung in Sachfragen geben.
Die aktuelle BRD ist auf alle Fälle schwerer regierbar als vor 35 Jahre als es zwar wechselnde, aber meist deutliche Mehrheiten gab. Auch die gegenwärtige Regierung macht zwar nicht alles falsch, kann es aber dem Volk nicht richtig erklären. Es ist zu hoffen, dass es eine neue Regierung nach der Bundestagswahl 2025 besser macht, damit der rechte und linke Rand nicht noch stärker wird. Dabei müssen folgende Dinge energisch angepackt werden: Innere Sicherheit, Frage von Krieg und Frieden, Migrationsthema (hier sollten aber im Arbeitsprozess stehende und weitgehend integrierte nicht einfach abgeschoben werden), Bürokratieabbau, Verbesserung der Wirtschaftssituation. Auch wenn man nicht gleich für alles eine Lösung findet, muss das Volk spüren, dass es vorwärts geht. Deutschland muss nicht in allen Dingen den ersten Platz in der Welt haben und auf gar keinen Fall „Deutschland, Deutschland über alles“, aber wir sollten schon etwas aus der Bedeutungslosigkeit wieder herausfinden und nicht den Anschluss verlieren.
5.
„Besserwessis“ und „Jammerossis“ – Schnee von gestern oder aktueller denn je?
Es macht doch Spaß, auf hohem Niveau zu jammern. Aber ich denke, dass es ca. 90 Prozent der Ostdeutschen besser geht als vor der Wende. Zum Glück haben wir ein gutes Sozialsystem, um das uns viele Länder beneiden. Deshalb wollen ja so viele nach Deutschland. Auf der einen Seite benötigen wir ausländische Arbeitskräfte, andererseits können wir nicht jeden ins Land lassen. Für mich entscheidend ist, wer sich intergieren will und eine Gegenleistung erbringen kann und auch Deutsch lernen will, der ist willkommen. Das mit der Gegenleistung gilt auch für Deutsche, die eine staatliche Leistung in Anspruch nehmen.
Die Begriffe ‚Besserwessi‘ und ‚Jammerossi‘ sollte es nach 35 Jahren eigentlich nicht mehr geben, aber Tatsache ist, dass es solche Leute nach wie vor gibt. Ich denke, dass sich dies erst nach weiteren zwei Generationen ‚ausgewachsen‘ haben wird. Es gibt auch heute ‚Jammerwessis‘ und ‚Besserossis‘. Geschimpft wird immer schneller als gelobt.
Demonstration für Umweltschutz, Königsbrück 1990, Ullstein Bild
„So gegen 22.00 Uhr bin ich nach Hause und habe, wie meist in dieser Zeit, versucht, Tagesthemen zu schauen. Es muss ‚versucht‘ heißen, denn das ‚Westbild‘ war nicht immer zu erkennen, oft viel Gries auf dem Bildschirm. Aber am 9. November ging es: Es war das Brandenburger Tor zu erkennen durch das ein Blitz ging. Ich habe mehrere Minuten gebraucht, um zu begreifen, was gerade passiert ist. Und dann kullerten die Freudentränen.“
1.
Wann und wo sind Sie geboren und aufgewachsen?
Ich komme aus einfachen Verhältnissen. Meine Mutter hat den wesentlichsten Teil Ihres Lebens als Köchin gearbeitet. Ihre Familie lebte in dem kleinen Ort Höckendorf bei Königsbrück. Sie wuchs bei Ihren Großeltern auf, nachdem ihre Mutter während der Kriegszeit verstarb und ihr Vater später aus der Gefangenschaft zurückkehrte.
Die Familie meines Vaters war lange in der Nähe von Warschau ansässig, das war schon immer Polen bzw. bis 1918 zaristisches Russland. Seit etwa 1809 lebten deutsche Protestanten in diesem Teil Polens. Mein Vater ist mit 12 Jahren, getrennt von seiner Familie 1945 hier in der Westlausitz „gestrandet“, er ist heute 91Jahre alt. Die deutschen Kinder wollte man damals von der immer näher rückenden sowjetischen Front in Sicherheit bringen. Im Mai 1945 im zerstörten Dresdner Schloss kümmerte sich Elsa Fenske um ihn und die anderen Jungen – damals war sie die erste Dresdner Sozialbürgermeistern, so würde man heute sagen.
Später in Laußnitz bei Königsbrück waren die Kinder auf sich gestellt und allein gelassen, immer auf der Suche nach etwas zu essen und so hatte den damals Zwölfjährigen die Familie Seiring in Stenz aufgenommen. Wer weiß was sonst aus meinem Vater geworden wäre. Erst 1955 sah er seine Eltern wieder – mittlerweile war er ein erwachsener Mann, verheiratet und Kraftfahrer im Fuhrunternehmen seiner Pflegeeltern. Beide, meine Mutter und mein Vater haben sich durchs Leben gekämpft, mit viel Fleiß, Entbehrungen und Anstrengungen. Diese ganze deutsche Geschichte – die Geschichte des 20. Jahrhunderts prägt mein Leben – bis heute.
Wir mussten als Kinder ran. Das war nicht immer 'lustig'. Wir erlebten jeden Tag, wie Vater und Mutter hart für uns gearbeitet haben. Aber wir hatten eine schöne Kindheit und unsere Eltern haben alles für uns drei Jungen getan.
Ich bin am 2. August 1958 hier in Kamenz geboren, habe drei Brüder und wohne seit 1989 in Königsbrück. Zunächst habe ich die 10. Klasse Oberschule absolviert, mein Biologielehrer empfahl mir eine Ausbildung zum Präparator zu machen. Angeblich war meine Bewerbung in der Fachschule in Greifswald nie angekommen. Es war eine Pflicht damals zum Ende der 10. Klasse einen Ausbildungsplatz nachzuweisen. Nun saß ich da. Was jetzt?
Handwerk und Geschichte hat mich auch schon immer interessiert. Ich habe dann Maurer gelernt: „Baufacharbeiter“ hieß das damals – in Dresden beim damaligen Bau und Montage Kombinat BMK am Güntzplatz.
1977 direkt nach meinem Facharbeiterabschluss Abschluss sollte der Aufbaustab für einen VEB Denkmalpflege in Dresden gegründet werden.
Ich habe mich sofort beworben und wurde damals mit 19 Jahren auch gleich genommen. Das war mein ‚Ding‘ - meine Leidenschaft für Geschichte und der Spaß am Handwerk vielen da zusammen. Dort habe ich das Maurerhandwerk noch einmal neu gelernt und eine Ausbildung zum Spezialhandwerker für Denkmalpflege gemacht
Die Restaurierung des Fürstenzuges, die Arbeiten im Stallhof und in der Hofkirche, im Albertinum in Dresden, sind mir noch heute in guter Erinnerung. Wohnungen gab es keine, zumindest nicht so einfach und so war für mich klar, dass ich für meine Familie etwas Eigenes mache.
Mit viel Unterstützung meiner Eltern kaufen wir ein Grundstück in Königsbrück im Ortsteil Stenz. Ein altes Haus an dem viel gemacht werden musste. Und so kam es, dass ich mir eine andere Arbeitsstelle suchen musste, um alles unter einen Hut zu bekommen.
Durch den Tipp eines Verwandten bewarb ich mich im Glaswerk Schwepnitz, das auch in Ottendorf-Okrilla und Kamenz Betriebsteile hatte und arbeitete dort als Betriebshandwerker.
Die Liebe zur Denkmalpflege, die Geschichte und Geschichten zu entdecken, ließ mich nicht los und so wurde ich etwa 1983 ehrenamtlicher Denkmalpfleger und engagierte mich im Kulturbund in einer Gruppe Gleichgesinnter in Kamenz.
Ich wollte das es auch beruflich weitergeht. Die Arbeit als Handwerker war eine „Knochenarbeit'. Mir war schon als junger Mensch klar: die Wenigsten können dies bis ins hohe Alter machen.
Nach ein wenig ‚Drängelei‘ und Hartnäckigkeit von meiner Seite aus, bekam ich durch den Betriebsleiter des Glaswerkes die Möglichkeit eine Meisterausbildung nach Feierabend zu machen und so schaffte ich auch 1987 diesen Schritt. Die Frage war, wie geht es weiter? So bekam ich das Angebot die Bauabteilung im Betriebsteil im Glaswerk Ottendorf zu übernehmen. Die Arbeit in einem Glaswerk war hart, kein Zuckerschlecken. Der Betrieb in Ottendorf war marode, die Leute waren es zum Teil auch. Menschen ohne Träume, handfeste Typen. Nur wenige, die wirklich etwas drauf hatten - wie der Technologe Dietrich Mauerhoff - habe ich noch in Erinnerung. Trotzdem hielt es mich da nicht lange.
Über einen kleinen Umweg über das Arbeitsamt, ja das gab es damals auch, erfuhr ich das die Stadt Kamenz einen Stellvertreter des Stadtbaudirektors sucht.
Ich habe eine kleine Weile überlegt. Handwerker war ich mit Leidenschaft.
Ein Wechsel in den damaligen Staatsapparat, war das das Richtige für mich?
Und so habe ich mich beim damaligen Bürgermeister für die Aufgabe als Stellvertreter des Stadtbaudirektors beworben. Die Innenstadtsanierung hat mich stark interessiert – in Kamenz lief da schon einiges.
Im Bewerbungsgespräch hatte ich das Gefühl es könnte klappen. Der damalige Bürgermeister Gommlich war für die Verhältnisse noch relativ jung und ich hatte das Gefühl, da ist einer der will noch etwas erreichen. Auf einmal, nach einer kurzen Pause stellte er mir die Frage: Na und? Mir war als 'gelernter Ossi' klar, was er meinte. Das 'Na Und?' war die Frage nach dem Eintritt in die SED. Wenn ich nein gesagt hätte, vielleicht hätte ich den Job nicht bekommen. Aber vielleicht hätte er auch - ohne meine Zustimmung SED Mitglied zu werden - zugesagt. Genau kann man das nicht sagen.
Gezwungen hatte mich mein Gegenüber nicht. Ich hätte ja nicht Ja sagen müssen, dann wäre ich vielleicht in einem Baubetrieb oder in einer LPG gelandet. Wollte ich aber nicht.
Ich wollte mich um diese schöne alte Stadt mit kümmern. Und zu dieser Zeit war spürbar, das ist schon auch in der damaligen DDR zu Veränderungen kommen wird.
Die Aufgabe habe ich auch bekommen und bin seitdem im Dienst unserer Stadt. Mir war klar, der Baufacharbeiterabschluss, den ich hatte und die Meisterausbildung reichten nicht. Ein Fernstudium als Bauingenieur in Cottbus folgte 1988. Dort waren wir nach 1990 die 'letzten Mohikaner'. Ein paar Jahre nach der Wende, man kann sagen nach uns wurde die Fachschule dichtgemacht. Das Studium schoss ich 1996 mit einem Fachhochschulabschluss an der FH-Zittau/ Görlitz ab.
2.
Was haben Sie am 9. November 1989 gemacht? Haben Sie diesen Tag bewusst erlebt? Hat sich Ihr Leben in den nächsten Wochen und Monaten stark verändert?
An den Tag selbst kann ich mich gut erinnern. Wir haben damals mit meiner Frau die legendäre Pressekonferenz mit Schabrowski live am Fernseher verfolgt. Ich weiß noch, wir waren irgendwie 'geplättet' – man kann sagen staunend sprachlos, überrascht trifft es dann doch auch nicht richtig.
Es war in den letzten Jahren der DDR zu spüren das es Veränderungen geben wird.
Ich war eifriger Sputnik-Leser und war über das Verbot der Zeitschrift 1988 sehr empört. Auch las ich gern die deutsche Ausgabe der Nowaja Vremja – beide Zeitungen waren zu DDR-Zeiten nicht ganz gut gelitten. Reformen auf der Basis einer sozialistischen Gesellschaft hielt ich für dringend notwendig.
In Dresden ging ich Anfang Oktober 1989 mit meinem älteren Bruder zu einer Veranstaltung in der Christuskirche in Strehlen. Die Leute machten sich dort von ihrer Bedrückung frei, sie machten sich Luft. Das imponierte mir. Einer, ein durchaus schon reifer Mann plädierte damals dafür die Reformversuche umzusetzen – er war nicht in der SED, er war Mitglied der CDU- und bekam Beifall! Später wurden diese Leute ausgebuht, es ging nur noch um die Wiedervereinigung, nicht mehr um Veränderungen innerhalb der DDR.
3.
3. Oktober 1990: Konnten Sie die Chancen im wiedervereinigten Deutschland nutzen? Gab es bei Ihnen oder Ihren Umfeld wirtschaftliche Verwerfungen (Stichwort: „Treuhand“?)
Im Dezember 1989 habe ich unmittelbar nach dem letzten Kreisparteitag, der die Umwandlung der SED zur PDS zum Ziel hatte, meinen SED-Ausweis auf den Tisch gelegt, bin zur damaligen SED Kreisleitung hingegangen und ordentlich ausgetreten.
Man sagte mir völlig überraschend, dass man wohl überlegt hatte mich zu fragen, ob ich bei den anstehenden Kommunalwahlen nicht als SED/ PDS Kandidat für die Bürgermeisterwahl in Kamenz antreten sollte.
Diese Frage hat mich verblüfft und sie war auch ein sicheres Indiz, dass jene die sie mir stellten, die Zeichen der Zeit nicht verstanden hatten. Aus vielerlei Gründen machte ich das nicht. In Kamenz habe ich die Wirkung der Runden Tische miterlebt. Und mir selbst erst einmal auferlegt die Entwicklungen zu beobachten, vor allem aber auch die neuen Teilnehmer im Spiel um die Macht kennenzulernen. Die aufkeimende Begeisterung für die deutsche Wiedervereinigung habe ich damals anders gesehen und nicht geteilt, denn ich hatte vor 1990 kaum Berührung mit dem 'Westen', weder über die Familie noch in anderer Weise. Diese damals spezielle deutsch-deutsche Sicht gab es bei mir also kaum.
Heute sehe ich die Teilung eines gemeinsamen Vaterlandes als etwas Widernatürliches an – und bin froh, dass wir Deutschen die Wiedervereinigung friedlich hinbekommen haben.
Auch wenn klar ist, dass die Russen damals Geld brauchten – ohne ihre Zustimmung hätte das nicht geklappt, das haben heute viele Menschen nicht mehr auf dem Schirm. 1990 verblieb ich im Bauamt der Stadt Kamenz. An der Spitze der Stadt fand ein Austausch statt.
Generell war viel in Bewegung – dabei gab es jede Menge wirtschaftliche Verlierer. Natürlich habe ich gesehen, wie unsere großen Betriebe platt gemacht wurden. Die damalige Zweiga, ein für DDR-Verhältnisse neuer Betrieb mit fast 2000 Arbeitsplätzen, wurde liquidiert. Eine 1989 kurz für der Eröffnung stehende Keramikfabrik ging nie in Betrieb. Den Menschen wurden Märchen erzählt. Tausende gingen rüber. Kamenz müsste heute, bezogen auf den Gebietstand mit den vielen Eingemeindungen locker 23.000 Einwohner haben. Wir sind 17. 300, das sagt doch alles.
Natürlich Leuchtpunkte, wie die Ansiedlung von Jägermeister, die Gründung von Sachsenfahnen gab es auch. Wir leben vom Wirtschaftsraum Dresden und die Entwicklung der Elektromobilität in der Zukunft ist mit der Accumotiv GmbH und Co.KG Kamenz einer Daimler - Tochter mit mehr als 1000 Arbeitsplätzen für uns lebenswichtig, man kann auch sagen wirtschaftlich überlebenswichtig.
1994 verstarb der damalige Bauamtsleiter. Der damalige Bürgermeister ermutigte mich, meinen Hut in den Ring zu werfen. Dann habe ich mich darauf auf die Ausschreibung hin beworben. Der Hauptausschuss gab mir das Vertrauen. So war ich von 1994 bis 2004 Leiter des Stadtentwicklungsdezernates.
Seit 2004 bin ich Bürgermeister, seit 2008 Oberbürgermeister unserer Lessingstadt Kamenz, zweimal wurde ich wieder gewählt und bin 20 Jahre in dieser schönen Aufgabe drin.
Wenn Sie mich so fragen, mit vielen Unterstützern konnte ich Chancen nutzen. Und wenn ich so zurückschaue, dann bin ich nun im Alter von 66 Jahren - einfach ausgedrückt ein glücklicher Mensch und bin dankbar, dass sich alles so in meinem Leben gefügt hat. Also ja, ich konnte die Chancen durchaus nutzen!
4.
Wie sehen Sie heute nach 35 Jahren Mauerfall die aktuelle BRD?
Im Grunde genommen begeistert mich das Gestalten – Gestaltung in meinem Sinne heißt immer, Altes – eben Leistungen von denen, die vor uns Verantwortung getragen haben, zu achten und trotzdem neue, interessante spannende Wege zu suchen.
Das war vor allem in den 1990er und 2000er Jahren im wiedervereinigten Deutschland und vor allem auch hier in Sachsen der Fall. Zu allen Zeiten hat es auch eine staatliche Propaganda gegeben, vor allem in den Tageszeitungen und der Boulevardpresse. Das hat sich leider in den letzten Jahren wieder verstärkt. Es zeigt sich besonders in den Einschnitten der Jahre 2020 und 2022.
Diese Entwicklung betrachte ich mit Sorge. Wer dazu, also zur sogenannten 'Corona-Krise' und dem Krieg in der Ukraine eine andere Meinung als die Herrschende hat – der muss heute mit medialen Anfeindungen rechnen. Das ist ein ziemlicher Unterschied zu den 1990er Jahren nach der Wende – auch wenn damals die Massenbeschallung ohnehin nicht die technischen, omnipräsenten Möglichkeiten wie heute hatte.
Ich beobachte schon mit Vergnügen, wie sich immer mehr Menschen mit ihrer eigenen Sicht politisch artikulieren und einbringen. Freiheit, unser Recht der freien Meinungsäußerung, die Bewahrung unserer Bürgerrechte ist kein Selbstlauf. Wir die Ostdeutschen, jene die die Zeit der DDR und die Zeit danach erlebt haben, wissen das. Mit dem erlebten können wir etwas anfangen.
5.
„Besserwessis“ und „Jammerossis“ – Schnee von gestern oder aktueller denn je?
Durch die unterschiedlichen Wege und Erfahrungen nach 1945 gibt es sicher einige Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschen. Die halte ich aber nicht heute nicht mehr für gravierend. Der Drops ist gelutscht. Der Elitenaustausch hat stattgefunden - er wurde auch zum Teil aus damals nachvollziehbaren Gründen von vielen Ostdeutschen selbst gewollt. Was viele nicht beachten und sehen wollten, der Austausch an der Spitze lief oft ohne die Ostdeutschen selbst. Es gab auch Ostdeutsche, die sich anbiederten und sich selbst in die Tasche in die Tasche logen. Natürlich gab es auch redliche Leute unter denen, die damals aus Westdeutschland kamen. Sie saßen meistens nicht an den Schalthebeln der Macht. Es gibt da eben auch andere Erlebnisse, Geschichten, die in diesem Zusammenhang dazu gehören. Menschen, wie der damalige Vorstand der Jägermeister AG Günter Mast und der Vorstandsvorsitzende der Daimler AG Dr. Zetsche haben sich persönlich hier für uns in Kamenz und damit für den Osten stark gemacht und mit dem Standort Jägermeister in Kamenz und dem Kompetenzzentrum für E- Mobilität des Daimler Konzerns in unserer Stadt Zeichen gesetzt. Diesen Unternehmerpersönlichkeiten und auch einigen anderen verdanken wir sehr viel. Ich finde man kann nicht nur den 'Westdeutschen', die hierherkamen, die Schuld, geben. Rückschauend ist klar, wir die Ostdeutschen hatten weder das Geld noch die Verbindungen, um wirtschaftlich ernsthaft mitzuspielen. Viele Westdeutschen wussten, dass und haben es auch ausgenutzt. Wir zahlten die Zeche in der Zeit nach dem 2. Weltkrieg. Wer konnte denn 'Eigenkapital anhäufen'?
Allerdings wäre es durchaus ganz spannend die Wende, die deutsche Wiedervereinigung mit der Erfahrung von heute noch einmal zu erleben.
Ich bin mir sicher, vieles würde anders laufen. Vielleicht würde sich das Bild der 'Pelzhändler, die mit Glasperlen und Tand die Eingeborenen über den Tisch ziehen' umkehren? Wer weiß?
Man sollte sich da eher auf das Gemeinsame, als auf das Trennende konzentrieren. Es scheint mir wichtiger mit historischem Abstand die deutsche Teilung zu verstehen. Wir waren von den Russen, als Siegermacht des 2. Weltkrieges besetzt. Der Sieger bestimmt, wo es lang geht, das war in der Geschichte immer so. Wenn meine Mutter meinem Vater 1957 auf der Suche nach einem besseren Leben nach Dortmund gefolgt wäre, dann wäre ich heute Dortmunder- ein Wessi. Mein Vater kehrte im Dezember 1957 nach Königsbrück zurück und im August 1958 wurde ich geboren. Das Schicksal hatte gewürfelt. Für jeden Westdeutschen dürfte damit klar sein, er hatte vielleicht etwas mehr oder weniger Glück auf der anderen Seite Deutschlands geboren zu sein. Mehr nicht. Wir, die Ostdeutschen, können aus dieser Perspektive meines Erachtens gelassen mit der Vergangenheit umgehen und mit Stolz in die Gegenwart und Zukunft blicken. Und wir sollten dafür eintreten, dass keiner bedrängt und mit der Frage behelligt, wird: 'Na Und?', um sich - zu was auch immer- bekennen zu müssen.
Rathaus Kamenz, 2020er Jahre, Foto: Dominic Wunderlich
„Freiheit, unser Recht der freien Meinungsäußerung, die Bewahrung unserer Bürgerrechte ist kein Selbstlauf. Wir die Ostdeutschen, jene die die Zeit der DDR und die Zeit danach erlebt haben, wissen das. Mit dem erlebten können wir etwas anfangen.“
1.
Wann und wo sind Sie geboren und aufgewachsen?
Geboren wurde ich 1968 in Wolfen. Aufgewachsen bin ich in Thüringen. Seit meinem 19. Lebensjahr versuche ich, in der Lausitz heimisch zu werden, denn ich kam damals auf Befehl der NVA hierher und bin irgendwie kleben geblieben.
2.
Was haben Sie am 9. November gemacht? Haben Sie diesen Tag bewusst erlebt? Hat sich Ihr Leben in den nächsten Wochen und Monaten stark verändert?
Am 9. November 1989 lag ich mit einer Erkältung im Bett und habe so die Tagesschau der ARD verpasst, die wir zusammen mit sieben weiteren Westsendern in Hoyerswerda damals bereits über Kabel empfangen konnten. Zum Frühstück am 10. lief im Radio RIAS 2 und berichtete vom ‚Tanz auf dem Ku-Damm‘. Ich dachte damals: ‚Jetzt übertreibt ihr aber‘ – also ich konnte es nicht glauben, auch dann nicht als die Menschen im Bus nach Spremberg beratschlagten, ob sie gleich heute oder am Wochenende ‚rüber‘ machen würden.
Die Veränderungen bei der NVA, der ich noch ein weiteres Jahr meines Lebens versprochen hatte, waren tiefgreifend. Wo gestern nur ein grünes Dienstbuch und ein markiertes Radio für DDR-Rundfunk erlaubt waren, schallte jetzt der RIAS über den Flur und der Unteroffizier schmökerte im Dienst in der Praline, einer Zeitschrift, für die wir noch vor Kurzem einen Großalarm ausgelöst hätten. Von einem Tag auf dem anderen hatte sich der Zweck dieser Armee erübrigt. Die Ausbildung lag brach, neue Wehrpflichtige wurden nicht eingezogen. Wer wollte, ging nach Hause. Es wurde in diesen Monaten in der Kaserne des 14. Panzerregiments viel Tischtennis gespielt und ferngesehen. Ich glaube, dass ich jede Live-Übertragung der Runden Tische damals gesehen habe. Es gab also viel Zeit zum Nachdenken, zum Beispiel über dieses Detail: Irgendwann tauchten die ursprünglich streng geheimen Karten für den Ernstfall auf. Sie zeigten, dass die 7. Panzerdivision Dresden mit ihren Regimentern in Bautzen, Kamenz, Zeithain, Spremberg und Cottbus für den Kriegsfall in den Harz verlegt worden wäre. Das lässt mich noch heute zweifeln, ob die Militärdoktrin Moskaus rein defensiv ausgerichtet war. Ich bin jedenfalls froh, dass sich meine Erfahrung mit Panzern und Granaten auf Übungen beschränkt. Dass es im Herbst 1989 friedlich blieb, war übrigens alles andere als selbstverständlich. Bis heute ist nicht klar, wer den Befehl dazu gab, dass die Soldaten vor ihrem Einsatz bei den Demonstrationen in Dresden von den LKW wieder absitzen und die Kalaschnikows zurück in die Waffenkammern bringen durften. Für einige Stunden lag ein Blutbad in der Luft. Überhaupt war das eine Zeit großer Zerrissenheit und Widersprüche. Ich habe damals hautnah erlebt, dass solche Umbrüche immer die ganze Gesellschaft erfassen. Auch innerhalb der NVA regte sich Widerstand, gab es täglich offenen Streit und jeder hatte andere Vorstellungen von der Zukunft.
Heute bin ich dankbar für diese Phase in meinem Leben, denn sie hat mich dazu gebracht, alles in Frage zu stellen, vor allem meine eigene Position. Wenn man darüber spricht, dann meistens in Anekdoten wie dieser: Als ich Ende November das erste Mal durch Bayern fuhr, da bog vor mir ein Unimog Mannschaftswagen mit Rekruten der Bundeswehr vor mir auf die Autobahn. Das ist schon eine besondere Situation, wenn du den ‚Feind‘ plötzlich im Trabi verfolgst. Man rieb sich fast täglich die Augen.
3.
3. Oktober 1990: Konnten Sie die Chancen im wiedervereinigten Deutschland nutzen? Gab es bei Ihnen oder Ihrem Umfeld wirtschaftliche Verwerfungen (Stichwort: „Treuhand“?)
Die Geschichte meinte es gut mit mir, denn meine vierjährige, freiwillige Dienstzeit bei der NVA endete im August 1990. So stand ich nicht vor der Frage, ob ich am 2. Oktober die eine Uniform ausziehen und am nächsten Morgen die der Bundeswehr anziehen müsste. Stattdessen war ich jetzt Journalist im wiedervereinigten Deutschland und habe vom Studio Cottbus aus diesen gewaltigen Umbruch publizistisch begleitet. Die Zeit war geprägt von großen Hoffnungen und Enttäuschungen der Menschen. Betriebsbesetzungen und Streiks wechselten sich ab mit ersten Spatenstichen und Grundsteinlegungen.
Ich war dabei als 1992 mehr als vierzigtausend Kohlekumpel in Hoyerswerda für den Erhalt ihrer Arbeitsplätze demonstrierten und half dem damaligen Bundeskanzler Helmut Kohl bei BASF Schwarzheide den richtigen Knopf für die Inbetriebnahme einer neuen Produktionsanlage zu finden. Ich interviewte die ersten Obdachlosen, hörte mir die Sorgen der Bürgermeister an, begegnete Show-Stars, Neo-Nazis, Ministerpräsidenten, Gewerkschaftern, Unternehmern. Für mich selbst war das beruflich eine sehr erfolgreiche Zeit. Mein Traum von der Arbeit beim Radio und später auch Fernsehen hatte sich erfüllt. Der Plattenbau-Wohnung in Hoyerswerda folgte schnell das eigene Heim mit einer eigenen kleinen blühenden Landschaft.
4.
Wie sehen Sie heute nach 35 Jahren Mauerfall die aktuelle BRD?
Meine eigene Perspektive hat sich mehrfach geändert. Inzwischen bin ich nicht mehr für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk tätig und habe mehrere Unternehmen gegründet. Als Beobachter mit Insider-Wissen erstaunt mich, dass meine ehemaligen Kollegen die kritische Distanz zur Regierung mehr und mehr verloren haben. Besonders deutlich wurde das in der Corona-Pandemie, in der sich für mich erschreckende Tendenzen gezeigt haben. Angstgetriebene Politik und unkritische Medien auf der einen Seite und eine große Gruppe Menschen, die sogenannten Ungeimpften, die vor den Kopf gestoßen und systematisch vom sozialen Leben ausgegrenzt wurden.
Ich muss etwas weiter ausholen. In der Nachwendezeit hatte ich folgendes verstanden: Journalismus und Haltung passen nicht zusammen. Anstelle eines ‚klaren Klassenstandpunkts‘ war die feste Überzeugung getreten, dass es die Aufgabe dieses Berufes ist, alles in Frage zu stellen – auch das vermeintlich Gute. Anders wirst du von der sogenannten vierten Macht im Staate zur vierten Macht des Staates. Anders als die Demonstranten in Dresden spreche ich nicht von einer ‚Lügenpresse‘, sondern von einer Plapperpresse, die offensichtlich aufgehört hat, Fragen zu stellen. Stattdessen maßen sich Medienmacher, leider vor allem im öffentlich-rechtlichen Rundfunk an, den Menschen die Welt zu erklären – auch bei Themen die sie selbst nicht verstehen. Das führt dazu, dass wie in den letzten Jahren der DDR die Regierung kein Feedback bekommt, beziehungsweise wenn sich die Menschen direkt artikulieren, Angst davor hat. Das fühlt sich ein wenig so an wie 1989. Viele Menschen spüren auf allen Ebenen der Gesellschaft, dass sie belogen werden, dass es so nicht weitergehen kann. Die Widersprüche sind einfach zu offensichtlich. Den Ausweg kennt niemand. Aber vielleicht steckt mal wieder irgendjemand einem Politiker im passenden Moment einen Zettel zu, um Mauern – diesmal in den Köpfen – einzureißen.
5.
„Besserwessis“ und „Jammerossis“ – Schnee von gestern oder aktueller denn je?
Ich kann mit diesen Kategorien nichts anfangen. Besserwisser gibt es überall, Jammerlappen auch. Mir geht aber bei dieser Frage etwas anderes durch den Kopf.
Vielleicht sind es die Westdeutschen, die gar keine Ahnung von Demokratie haben, erst recht keine Erfahrung mit Diktatur. Westdeutsche Eltern wissen nicht, wie ein übergriffiger Staat die eigenen Kinder indoktriniert. In der Schule, im Verein, an der Berufsschule. Sie kennen nicht die Verzweiflung und den Familienstreit, wenn die Kinder den Demagogen folgen. Sie können nicht sehen, dass sich das gerade wiederholt. Keinem Westdeutschen wurde vorgeschrieben, wie er sprechen sollte, damit es 'richtig' klingt. Von keinem Journalisten im Westen wurde ein 'klarer Klassenstandpunkt' als Einstellungskriterium verlangt. Niemand wurde auf Solidarität, Antifaschismus und Kollektivismus eingeschworen. Und, das ist meine persönliche Erfahrung: Kaum jemand im Westen kennt diese innere Zerrissenheit, wenn sich dein Weltbild als falsch herausstellt. Niemand musste sich jemals so sehr selbst in Frage stellen, wie viele von 'uns' in ihrer Biografie. Das ist ein großes Problem, glaube ich.
Ich wünsche mir, dass wir wieder wegkommen von ausgeprägten Freund-Feindbildern und Ideologien. Denn wenn die Wendezeit etwas in mir verändert hat, dann das: Vorgefertigte, immer gleiche Antworten herunterbeten, weil man sich davon einen Vorteil oder auch nur weniger Unheil erwartet, ist ein sehr schlechtes Konzept. Persönlich und gesellschaftlich.
Abbildung 1 Familienpotrait Hoyerswerda 1993, Deutsche Fotothek, Christian Borchert
„In der Nachwendezeit hatte ich folgendes verstanden: Journalismus und Haltung passen nicht zusammen. Anstelle eines ‚klaren Klassenstandpunkts‘ war die feste Überzeugung getreten, dass es die Aufgabe dieses Berufes ist, alles in Frage zu stellen – auch das vermeintlich Gute. Anders wirst du von der sogenannten vierten Macht im Staate zur vierten Macht des Staates. Anders als die Demonstranten in Dresden spreche ich nicht von einer ‚Lügenpresse‘, sondern von einer Plapperpresse, die offensichtlich aufgehört hat, Fragen zu stellen“
1.
Wann und wo sind Sie geboren und aufgewachsen?
Ich wurde 1955 hier in Weißwasser geboren und war die Älteste von fünf Geschwistern. Daher bin ich, gemeinsam mit meinem jüngsten Bruder, bei unserer Oma aufgewachsen. Mein Vater war Lehrer und starb, als ich 14 Jahre alt war. Meine Schwester, die Jüngste von uns Fünf, war da gerade einmal 4 Jahre alt. Meine Mutter arbeitete bis 2000 als Hauptbuchhalterin in einem Baubetrieb.
2.
Was haben Sie am 9. November gemacht? Haben Sie diesen Tag bewusst erlebt? Hat sich Ihr Leben in den nächsten Wochen und Monaten stark verändert?
Nach dem Studium habe ich im Bereich Technik im Kombinat Lausitzer Glas als Mitarbeiterin im Büro für Neuerer angefangen. Ich war für die MMM, also für die Messe der Meister von Morgen - die Jugend-Neuerer-Bewegung - verantwortlich. Wie immer haben wir abends die Nachrichtensendungen verfolgt und erst einmal gar nicht so richtig den Worten von Günter Schabowski glauben können. Einer meiner Brüder arbeitete damals als Bauarbeiter in Berlin und feierte seinen 33. Geburtstag am 9. November 1989. Er bestätigte uns dann einen Tag später, dass er auf dem Ku'damm entlanggelaufen ist.
Ich erinnere mich, dass es immer eine Betriebs-MMM, eine Kreis-MMM, eine Bezirks-MMM und im November eine Zentrale MMM in Leipzig gab. Diese fiel 1989 aus. Alles zerfiel. Es war schon ein sehr eigenartiges Gefühl und sicherlich ging es den jugendlichen Ausstellern genauso. Da meine Tätigkeit nun so langsam klanglos den Bach runter ging, musste ich mich um eine neue Beschäftigung kümmern.
Ich war damals alleinerziehend mit zwei schulpflichtigen Kindern. Meine Kaderchefin half mir, Anfang 1990, einen neuen Job bei der BHG in Krauschwitz zu finden. Dort gab es ein Kassengeschäft, welche kurze Zeit später in die Raiffeisenbank Weißwasser eG umgewandelt wurde. Das hieß also für mich, 40 Stunden in der Bank in Krauschwitz zu arbeiten, am Wochenende nach Cottbus zu fahren, noch mal die Schulbank zu drücken und trotzdem für die Kinder da zu sein, denn für sie war ja auch alles Neu in der Schule. Klassenkollektive wurden auseinandergerissen und neu zusammengestellt und die Lehrer gewechselt – manchmal war es sehr chaotisch und für die Kinder nicht einfach.
3.
3. Oktober 1990: Konnten Sie die Chancen im wiedervereinigten Deutschland nutzen? Gab es bei Ihnen oder Ihrem Umfeld wirtschaftliche Verwerfungen (Stichwort: „Treuhand“?)
Ich habe meine Chance genutzt. Bis zu meinem Rentenbeginn 2021 habe ich in der Volks- und Raiffeisenbank gearbeitet. Ich hatte wunderbare Kollegen und verständnisvolle Vorgesetzte.
4.
Wie sehen Sie heute nach 35 Jahren Mauerfall die aktuelle BRD?
Mein Mann und ich waren im Oktober in einem Ferienheim der Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie, Energie in Königswinter. Wir kamen schnell mit den Kollegen, z.B. aus dem Ruhrgebiet, ins Gespräch und mussten gemeinsam feststellen, dass sie sehr wenig über unsere Befindlichkeiten und Gegebenheiten wissen - sie sich aber auch nie Gedanken dazu gemacht haben, um das zu ändern. Viele waren auch noch nie im Osten, weil ihr Interesse, uns und unser Land kennenzulernen, gegen Null geht.
5.
„Besserwessis“ und „Jammerossis“ – Schnee von gestern oder aktueller denn je?
Wir sollten wirklich mehr miteinander kommunizieren als übereinander reden. Seit zwei Jahren arbeitet bei uns im Glasmuseum eine junge Frau aus Biberach an der Riß. Es ist ein wirklich gutes Zusammenarbeiten auf Augenhöhe. Wir lernen von ihr und sie von uns. Wir hören ihr zu und sie uns. Und was im 'Kleinen' geht, sollte doch wohl im 'großen' auch möglich sein. Wenn sich jeder vom anderen verstanden fühlt, so hoffe ich, dass es dieses 'Besserwessi' und 'Jammerossi' bald nicht mehr gibt.
Abbildung 1 Likörgläser aus dem Palast der Republik, 1980er Jahre, hergestellt im VEB Glaswerk Weißwasser, Foto: Stiftung Deutsches Historisches Museum
„Mein Mann und ich waren im Oktober in einem Ferienheim der Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie, Energie in Königswinter [NRW]. Wir kamen ganz schnell mit den Kollegen, z.B. aus dem Ruhrgebiet, ins Gespräch und mussten gemeinsam feststellen, dass sie sehr wenig über unsere Befindlichkeiten und Gegebenheiten wissen - sie sich aber auch nie Gedanken dazu gemacht haben, um das zu ändern. Viele waren auch noch nie im Osten, weil ihr Interesse, uns und unser Land kennenzulernen, gegen Null geht.“
1.
Wann und wo sind Sie geboren und aufgewachsen?
Geboren am 25. Juni 1974 in Bautzen. Dort bin ich auch aufgewachsen.
2.
Was haben Sie am 9. November gemacht? Haben Sie diesen Tag bewusst erlebt? Hat sich Ihr Leben in den nächsten Wochen und Monaten stark verändert?
Ich vermute, dass ich tagsüber in der Schule war - aber das weiß ich nicht mehr genau - erinnern kann ich mich ans Fernsehen. Meine Mutter schaute in der Zeit permanent Elf99 - und so sahen wir auch Pressekonferenz - ich meine wir sahen diese sogar live - ich kann mich auch an die Nachfrage des italienischen Journalisten erinnern, worauf der verhängnisvolle Satz fiel. In meiner Erinnerung war es bei uns eher so ein ungläubiges Gefühl - wie jetzt? Die Mauer ist auf? Wir können in den Westen? Ich weiß, dass es ein Donnerstag war.
Am nächsten Tag ging ich ganz normal in die Schule -inwieweit es dort Gespräch war, daran kann ich mich nicht erinnern. Ich weiß aber noch ganz genau, dass meine Schwester plötzlich da war und mich direkt von der Schule befreite - denn mein Vater stand wohl an der Polizei an, damit wir ein Visum, oder so einen Stempel bekommen - dort stand gefühlt die halbe Stadt Bautzen in einer Schlange. Wir holten schnell zu Hause den Ausweis und dann standen wir dort an - und zwar: ewig. Nach vielen Stunden waren wir dran und bekamen so Zettel und einen Stempel. Es war eine euphorische Stimmung. Und dann wollten wir noch - angesteckt von vielen anderen Leuten in der Schlange dort - zur Bank, um Westgeld zu tauschen, das ging wohl mit dem Zettel, den wir bei der Polizei bekommen hatten. Aber auch dort standen Massen - und es war wirklich extrem kalt und dunkel mittlerweile. Dann sagten die Mitarbeiter der Bank, dass ihnen das Geld ausgegangen sei - in der Erinnerung meiner Eltern erwiderten die Menschen: 'Dann geht welches holen' -und tatsächlich sind dann wohl Mitarbeitende nach Dresden gefahren. Mein Vater wollte nach Hause- aber ich sagte: ich harre aus. Und so blieb ich dort mit einigen wenigen Menschen in der Schlange. Sie alle erzählten von ihren Plänen, mit welchen Zügen sie los wollten - so schnell wie möglich. In den Westen. Bevor die Grenze wieder geschlossen wird. Irgendwann war mein Vater da, irgendwann bekamen wir das Geld. Mitten in der Nacht, völlig durchgefroren, waren wir dann zu Hause und dort habe ich meine Eltern unbedingt nach Berlin fahren müssen: Geschichte live erleben. Das waren wohl meine Worte - meine Eltern haben das nicht vergessen. Und tatsächlich sind wir dann mit dem Wartburg Tourist am 11. November 1989 morgens Richtung Berlin aufgebrochen. Die Schule habe ich einfach geschwänzt - an so einem Tag würde eh niemand hingehen. Zum ersten Mal in unserem Leben erlebten wir einen Stau auf der Autobahn: Plötzlich ging nichts mehr. Damals hatte die Autobahn keine Leitplanken - und so lenkte mein Vater den Wartburg von der Straße über ein Feld - hin zur F96 (heute B96) - das taten einige - eine gute Idee. So kamen wir irgendwann einmal Richtung Berlin - zum Grenzübergang Lichtenrade - vorher um 11. November Uhr hupten alle Autos - daran erinnert sich mein Vater. Ich kann mich an die Fahrt im Schritttempo über den Übergang erinnern - er war sehr lang - es war ein Übergang, den die Müllfahrzeuge aus Westberlin nutzten. Ich erinnere mich an die Weite - und an das Weinen meiner Mutti. Alle schwiegen wir. Es war ein unglaublicher Moment - einfach unbeschreibbar.
Unfassbar.
Und plötzlich wurde die Stille unterbrochen von lauten Rufen und Menschen, sie trommelten auf das Auto und jubelten. Sie waren so euphorisch. Mein Vati erinnert sich, dass sogar Menschen in den Bäumen uns zujubelten. Daran habe ich keine so genaue Erinnerung, aber ich erinnere mich an diese jubelnde Masse. ich verstand nicht, warum sie auf das Auto trommelten. Wir fuhren Schritttempo durch dieses Menschenmassen-Spalier. Ein Fahrradfahrer hängte sich ans Fenster dran und fuhr mit uns mit, meine Mutter kurbelte die Schreibe runter - es war ein junger Mann, der uns sagte, wo wir hinfahren sollten - um das Auto zu parken - um irgendwie anzukommen. Und so haben wir es dann gemacht. Als nächstes erinnere ich mich, dass uns Menschen sagten, wo die Sparkasse ist, damit wir das Begrüßungsgeld abholen. Davor stellten Frauen Campingtische auf und verschenkten Kaffee und Kuchen. Ein alter Mann kam mit Tränen in den Augen und einer Gießkanne in der Hand auf uns zu - auf meine Mutti und uns Kinder. Vermutlich kam er gerade von dem Friedhof, der gleich ums Eck war. Er weinte und drückte uns Geld in die Hand.
Menschen kamen auf uns zu - jubelnd - sie sagten, alle wollen in die Stadt. Und fragten: Wo wollt ihr denn hin. Mein Vater antwortete: ‚Zum Ku’damm‘. Ich glaube, es war die einzige Strasse, die er in Westberlin kannte. Es gab eine U-Bahn Haltestelle - aber überall waren Massen und auch Polizisten, jemand sagte: 'Heute ist der Mauer auf und Hertha spielt - keine Chance irgendwohin zu kommen.' Ich glaube es war ein Polizist, der uns dann sagte, wir sollten mit dem Bus fahren - und so quetschten wir uns mit vielen anderen in einen Bus, der so anders aussah als bei uns in Bautzen. Der Busfahrer begrüßte alle aus der DDR - und viele riefen: 'Ihr könnt umsonst fahren!' Wohin wir fuhren, und was wir sahen, daran erinnre ich mich nicht mehr. Irgendwann waren wir in einem kleinen ‚Kaisers‘ und kauften Schokolade. Ich glaube mein Vater hätte gerne seine Freunde in Westberlin besucht - ich weiß auch nicht, was eigentlich der Plan war. In dem ‚Kaisers‘ waren wir völlig überfordert. Westen. Und alles lag einfach so in den Regalen, alles, was das Herz begehrte. Aber was sollten wir kaufen? Und war es wirklich so, dass das unser einziger Tag sein würde, in diesem Westen und morgen schon wieder alles vorbei war?
Ich erinnere, wie mein Vater uns, die wir genau so müde waren, wie er, fragte, ob wir nicht jetzt einfach nach Hause wollten - und ja: Das wollten wir. Zurück nach Hause.
3.
3. Oktober 1990: Konnten Sie die Chancen im wiedervereinigten Deutschland nutzen? Gab es bei Ihnen oder Ihrem Umfeld wirtschaftliche Verwerfungen (Stichwort: „Treuhand“?)
Das ist eine schwierige Frage - ich war 1990 16 Jahre alt - im Grunde war es ein Glück in diesem Alter, das alles erlebt zu haben. Denn ich und mein Jahrgang - wir waren jung und frei - unschuldig, wenn man so will: Das heißt wir mussten uns in der DDR noch zu nichts entscheiden oder verpflichten - und 1990 lag alles vor uns. Zugleich hatte ich Eltern, die diese Zeit auch als eine Chance begriffen - und beide echte Macher waren und sind. Deshalb ist das alles bei uns positiv besetzt - wenn auch klar war: Es würde nicht Gold und Honig fließen.
Meine Mutti schaute damals viel fern. Und so bekam sie mit, dass sich Schüler:innen in der DDR für ein Stipendium des Bundestages und des US Congress bewerben können - für ein High School Jahr in den USA. Zunächst hatte niemand in Bautzen ein Anmelde -Formular, letzten Endes sendete mir der DDR-Bildungsminister (De Maiziere -Regierung) ein Telegramm und später die Unterlagen - danach gab es diesen Minister nicht mehr. Im Scherz sagte ich immer: das war die letzte Amtshandlung. Die Auswahltermine waren in Meißen: An der Ausbildungsstätte für Pionierleiter*innen, d.h. angehende Pionierleiter*innen wählten uns Schüler*innen aus, die ein Jahr in die USA gehen sollten - absurd…
1991 ging ich dann in die USA - für ein Jahr. Eine Erfahrung, die mich unglaublich geprägt hat. Ein Jahr Nashville, Tennessee- mit dem größten Kulturschock, den man sich vorstellen kann. Ich weiß noch, im Flugzeug wußte ich nicht, was ich bestellen sollte, denn mein Englisch war miserabel, die Jungs aus dem Westen, die mit an Bord waren, lachten mich aus. Später - einige Monate nach Schulstart - kam einer der Jungen mit seiner Gastmutti zum Haus meiner Gastfamilie: Ich solle endlich damit aufhören, Unsinn über das Leben in Deutschland zu erzählen. Es sei nicht die Wahrheit. Die Jungs aus meiner Schule haben ihn bei einem Sportwettkampf ausgelacht. Dabei habe ich tatsächlich an meiner Schule nur von ‚meinem‘ deutschen Leben erzählt: Dass wir auf ein Auto 13 Jahre warten mussten, dass momentan sehr viele Menschen arbeitslos sind (eine Mitschülerin sagte noch: Oh ! Das sind ja mehr als in der Dritten Welt - so hatte ich das noch gar nicht gesehen) oder das meine Omi jeden Freitagmorgen mit anderen älteren Frauen immer nach Brot beim Bäcker angestanden hat - weil er nur in kleinen Mengen backen konnte. Tatsächlich wurde mir erst in dem Gespräch, das beide amerikanische Gastmütter ganz wunderbar und mit Neugier 'moderierten', so wirklich mit aller Konsequenz klar, dass ich eine ganz andere Geschichte, eine ganz andere Perspektive auf dieses Deutschland habe und damit auch andere Wahrheiten.
Ich habe diese ganze Zeit des Umbruchs als Bereicherung erlebt - natürlich habe ich auch die Schwierigkeiten der ‚Erwachsenen‘ mitbekommen. Mein Vati zum Beispiel - der einfach nicht wusste, in welche Wirtschaftsform er den Betrieb 'umwandeln' sollte - was das Richtige ist. Ich habe bis heute vor der Leistung der Menschen damals unglaublichen Respekt - wie schnell viele begriffen, was zu tun sein würde, was sich ändert und wie man sich am besten den neuen Bedingungen anpasst - oder sie sich zu eigen macht. Es ist eine unglaubliche Leistung, die die Menschen in der DDR damals vollbrachten - unglaublich, wie sie mit all dem Neuen aber auch den Verlusten klar kamen - oder klarkommen mussten. Was daraus entstanden ist. Genau das war auch die Motivation für mich, den Film ‚Ein Teppich aus Persien‘ zu machen - und das Buch ‚Bautzen im Dazwischen‘ zu schreiben.
Die Erinnerungen an die Zeit, die Erlebnisse und Erfahrungen sind unglaublich wichtig und ich hoffe, dass ich auch mit diesem Interview dazu beitragen kann, dass die Lebensleistungen der Menschenraub der DDR Wertschätzung erfahren.
Vom Verschwinden von Menschen, Dingen, Gebäuden und auch Vertrautheiten - davon habe ich erst viel später eine Idee und Gewissheit bekommen - in dem Moment war das für mich nicht wichtig, was sicher auch an meinem Alter damals lag - und der Perspektive, die jungen Menschen - zum Glück - oft eigen ist.
4.
Wie sehen Sie heute nach 35 Jahren Mauerfall die aktuelle BRD?
Ich mache mir große Sorgen um unser Land - und unsere Gesellschaft. Es macht mich betroffen, wie stark sich Rassismus und Hass Breit gemacht haben - und wie normal Anfeindungen gegenüber Menschen anderer Herkunft angenommen werden. Der Diskurs zum Thema Migration überhaupt nichts menschliches mehr zeigt - es ist ein Trauerspiel. Zugleich erlebe ich selbst auch immer die Lücken des Rechtsstaates - nie hätte ich mir vorstellen können, dass es ok ist und von der Polizei hingenommen wird, dass 700 Neonazis durch Bautzen marschieren und ihren Hass verbreiten können. Angst machen. Und brüllen: 'Die Straßen gehören uns - die Stadt gehört uns!' Und kein Oberbürgermeister in Sicht, der sich diesen Neonazis entgegenstellt. Es macht mich sprachlos.
Es hat sich scheinbar vieles, beinah alles nach rechts verschoben - es gibt kaum noch Grenzen - außer die des Landes. Grenzkontrollen - nie hätte ich mir träumen lassen, dass diese wieder eingeführt werden. Unglaublich.
Es gibt keine politischen Visionen - wie wollen wir eine pluralistische Gesellschaft denken und formen - was können Lösungen sein - was wollen wir Erfreuliches schaffen?
Warum Menschen in der Oberlausitz zu 30-49 Prozent (je nach Wahlkreis) AfD wählen, bleibt mir ein Rätsel - dass Menschen dieser Partei folgen, für mich ist das noch immer unvorstellbar. Als Kind habe ich oft meine Omis und auch meine Eltern gefragt: Wie konnte so etwas wie Faschismus, der Holocaust und all die anderen Gräuel geschehen, wie konnten Menschen den Nazis folgen? Meine Mutti sagt heute manchmal: 'Siehst Du, so passiert so etwas.' Doch warum Menschen sich dem anschließen, bleibt mir dennoch ein Rätsel und unverständlich. Das Zusammenspiel von CDU und AfD im Kreistag des Landkreises Bautzen verschlägt mir die Sprache.
Was ich interessant finde: Kommt man mit Menschen zusammen, heißt es oft: 'Lass uns nicht über Politik sprechen' - wenig später finden sich alle in Debatten und Gesprächen über den Zustand der Gesellschaft wieder. Es treibt viele Menschen um - oft in unterschiedliche Richtungen. Resignieren mag ich auf keinen Fall - denn das Leben ist zu schön und wir haben nur dies eine. Deshalb habe ich mich entschieden, mich für das zu engagieren, was mir wichtig ist, im Kleinen Projekte und Initiativen zu realisieren. Für Menschlichkeit einzustehen - und freundlich zu bleiben. Und manchem aus dem Weg zu gehen. Es gibt Tage, da blicke ich voller Zuversicht in die Zukunft - und es gibt Tage, da gelingt mir genau das nicht. Und ich habe die große Befürchtung, dass wir gerade alles mit ziemlichen Tempo an die Wand fahren.
5.
„Besserwessis“ und „Jammerossis“ – Schnee von gestern oder aktueller denn je?
Bei genauerer Betrachtung fällt die große Unzufriedenheit vieler Menschen und das „Gemecker“ der Leute z.B. in der Oberlausitz schon sehr auf. Da fällt mir aber auch ein Satz meiner Mutti ein, den sie in einem Filmgespräch für den Film 'Ein Teppich aus Persien' gesagt hat - und zwar in ihren Erinnerungen an die Zeit Ende der 1980er Jahre in Bautzen: 'Damals haben alle geschimpft. Jeder über etwas anderes.' Ich habe viel darüber nachgedacht. Wer weiß, vielleicht hat sich da wirklich so eine Art Kultur des Schimpfens, Meckerns oder auch Jammerns eingespielt oder auch als Umgangs- und Alltagskultur von einer in die nächste Generation übertragen. Vielleicht haben viele Menschen aber auch das Gespür und Wissen der Verhältnismäßigkeiten verloren - das heißt, es ist ihnen gar nicht bewusst, auf welche hohem Niveau sie jammern.
Vielleicht sind es aber auch die Erfahrungen - ein Leben in der DDR und Erwartungen an ein neues Leben, die sich nie erfüllten? Vielleicht haben Menschen den Kontakt zum Wesentlichen verloren. Ich weiß es nicht. Vielleicht bedarf es einer Analyse, eines genauen Hinschauens: Was genau ist es, was die Menschen unzufrieden macht - vielleicht müssen alle - Medien inklusive - einmal die Perspektive wechseln und einfach immer wieder die Frage stellen: Was macht Sie glücklich - womit sind Sie zufrieden? Natürlich ist es frustrierend, z.B. keinen Arzt zu finden - aber was wäre denn eine Lösung ? Eine aktive Lösung - und wo trägt man am besten die Beschwerde hin - statt einfach nur zu Meckern - auf alles und jeden, und allgemein? Klar im Moment ist im Fall die Ampel an allem Schuld, aber wer wird dann der nächste Sündenbock sein?
'Besserwessis' - früher habe ich mir darüber nie Gedanken gemacht - das erste Mal wurde ich damit in meinem Volontariat beim ZDF konfrontiert - mit meiner DDR-Vergangenheit und den angeblichen Privilegien, die daraus resultierten. 'Quoten-Ossi' - und noch Frau dazu - das habe ich dort oft gehört. Und habe es als Schimpfwort empfunden, ein Label das ich wirklich furchtbar fand. Es war bestimmt nicht der einzige, aber auch ein Grund, in die Selbstständigkeit zu wechseln.
Immer wieder kommt es vor, dass Menschen, die in der BRD sozialisiert wurden, mir erklären, was es bedeutete, in der DDR aufzuwachsen. Wohl wissend, dass ich in der DDR aufgewachsen bin. Das macht mich oft wütend. Es gibt kein wirkliches Interesse an meiner Sicht, meinen Erfahrungen und Erlebnissen. Ich habe schon den Eindruck, dass das etwas Systematisches ist. Ganz anders verlaufen immer wieder Gespräche in der Schweiz. Und das finde ich spannend, dass wir noch immer nicht wirklich mit Interesse einander begegnen - und auch immer wieder von deutschen Erlebnissen die Rede ist - obwohl damit ganz klar Gegebenheiten in der BRD gemeint sind - sowohl Journalist*innen als auch andere Multiplikator*innen übergehen noch immer die Tatsache, dass wir natürlich ganz andere Lebenserfahrungen gemacht haben. Ich versuche, Schwarzweiß-Malerei zu vermeiden, aber manchmal muss ich schon darüber schmunzeln - auch über mich selbst - wie genau manche Schubladen passen und wie schnell auch ich dabei bin, diese zu bedienen.
In Berlin lebe ich sehr nah am Mauerpark - einem Ort, an dem einst die Grenze verlief und den sich die Anwohner*innen als Freifläche nach der Wiedervereinigung erkämpften. Dort kommen viele und auch ganz unterschiedliche Menschen zusammen - alle nutzen dieses Stück Land für etwas anderes: Es ist ein so lebendiger Ort - und es ist so schön, Menschen unterschiedlicher Generationen dabei zu beobachten, wie sie diesen Ort mit Leben füllen. Jedes Mal, wenn ich dort lang gehe, denke ich: Was für ein Geschenk! Und: Wer hätte das vor 36 Jahren gedacht? Wer hätte gedacht, das so etwas starres, wie der Eiserne Vorhang, etwas so Festgefahrenes sich je ändern könnte? Es ist unglaublich, dass wir eine so unglaubliche, unfassbare Veränderung erlebt haben! Und das macht mir Hoffnung - für vieles, was heute unverrückbarer, unveränderbar scheint.
Jugendtreff, Bautzen Ende der 1980er Jahre, Deutsche Fotothek: Harald Hauswald
„Wer hätte gedacht, das so etwas starres, wie der Eiserne Vorhang, etwas so Festgefahrenes sich je ändern könnte? Es ist unglaublich, dass wir eine so unglaubliche, unfassbare Veränderung erlebt haben! Und das macht mir Hoffnung - für vieles, was heute unverrückbarer, unveränderbar scheint.“
1.
Wann und wo sind Sie geboren und aufgewachsen?
Ich bin am 29. Dezember 1961 in Bautzen geboren und bin dort mit zwei Brüdern zur Schule gegangen, ehe ich mit 18 Jahren in die große, weite Welt, nach Berlin, ausgeflogen bin. Nicht zuletzt haben mich weder der damals ideologisch dominante Kommunismus, noch Alternativen wie die Kirche groß angezogen, meine Fragen nach Sein, Sinn und Bewusstsein nicht beantworten können. In Berlin habe ich daher Philosophie, und ergänzend Psychologie, Kultur- und Sozialwissenschaften an der Humboldt-Universität studiert. Nicht zuletzt durch den Widerspruch zwischen einer ja an sich schönen, angedachten Utopie und dem real existierenden Sozialismus war Ostberlin ein spannendes Pflaster. Vor allem die Humboldt-Universität war ein Ort der Avantgarde, der den anstehenden Entwicklungen voraus war – spätestens seit der sowjetischen Perestrojka ab Mitte der 80-iger Jahre war in Berlin – anders als in ländlichen Regionen wie der Oberlausitz – vielen Dozenten und Studenten klar, dass größere Veränderungen bevorstehen.
2.
Was haben Sie am 9. November gemacht? Haben Sie diesen Tag bewusst erlebt? Hat sich Ihr Leben in den nächsten Wochen und Monaten stark verändert?
Wir sind am Abend zur Mauer gegangen und haben die gute Stimmung genossen. Der Mauerfall kam für mich zur rechten Zeit. Ich promovierte von 1986 bis 1989 – mein Thema hätte es vermutlich schwer gehabt zu DDR-Zeiten verteidigt zu werden. Doch wie schrieb ich an anderer Stelle: ‚Immerhin konnte man in diesem letzten Jahrzehnt des in Ostdeutschland von kommunistischer Ideologie beherrschten Systems unter dem Thema ‚Dialektischer Materialismus‘ geistige Fähigkeiten der dialektischen, d.h. Widersprüche fließend verbindenden Synthesen erlernen. Zwar blieb dies beschränkt auf Gedanken oder Bewusstsein und war hier sogar ein gewisser Ersatz für das erstarrte soziale Sein, aber es vermittelte zumindest Kompetenzen für einen komplexeren Blick auf das Ganzefreie meiner Arbeit habe ich, ausgehend von den Theorien von Johann Gottlieb Fichte, Nicolai Hartmann, Max Scheler, Manfred Eigen, Erich Jantsch u. a., versucht theoretische Ansatzpunkte für eine sowohl menschlich freie, als auch ökologisch und ethisch eingebundene Kultur und Gesellschaft zu entwickeln. Für ‚Der Mensch in den Evolutionsschichten der Selbstorganisation* kam 1990 eine spannende Ost/West Promotionskommission zusammen, u.a. mit Axel Honneth, Rudolf Bahro und Michael Brie. Als dann 1990 Rudolf Bahro sein Institut für Sozialökologie an der Humboldt-Universität gründete, wurde ich sein wissenschaftlicher Mitarbeiter.
3.
3. Oktober 1990: Konnten Sie die Chancen im wiedervereinigten Deutschland nutzen? Gab es bei Ihnen oder Ihrem Umfeld wirtschaftliche Verwerfungen (Stichwort: „Treuhand“?)
Zusammen mit dem Philosophen Rudolf Bahro baute ich damals das gerade schon erwähnte Institut für Sozialökologie an der Humboldt-Universität Berlin auf und wirkte hier in Lehre und Forschung von 1990 bis 1998. 1993 entstand dort auch die Idee eines praktischen Zukunftsforschungsprojekts. Daher gründete ich dann zusammen mit Freunden und mit Unterstützung des sächsischen Ministerpräsidenten Kurt Biedenkopf das sozial-ökologische Modellprojekt LebensGut in Pommritz bei Bautzen. Das Land Sachsen hat dem Verein ein großes Landgut in der Oberlausitz und 80 Hektar Land überlassen, um so kurz nach der Wende in den neuen Bundesländern utopische Praxis zu verwirklichen: ein Leben im Einklang mit der Natur. Es ging und geht um nachhaltiges Wirtschaften, um dörfliches Leben im 21. Jahrhundert und um neue soziale und geistige Perspektiven. Bis heute wirken engagierte Menschen dabei mit.
Nach dem Tod Rudolf Bahros und dem Ende des Instituts für Sozialökologie an der Humboldt-Universität führte ich letzteres im LebensGut weiter, zuerst als Institut für sozial-ökologische Kulturforschung und später als Netzwerk für Metamoderne Kultur. Um dieses auch mit der etablierteren Wissenschaft zu verbinden, übernahm ich ab 2013 eine Vertretungsprofessor für Kulturphilosophie und Transformationsforschung an der Hochschule Zittau/Görlitz und trug dort zur Etablierung einer Forschungsgruppe für nachhaltige Transformationsprozesse bei. Seit 2023 wirke ich dort als Professor für Kulturwissenschaften, insbesondere Sozial- und Kulturökologie, und leite den Bachelor-Studiengang Kultur und Management. Dabei versuche ich, Lehre und Forschung und die sogenannte dritte Mission der Wissenschaft, also praktische Entwicklung zu fördern, zu den oben genannten Themen kreativ zu verbinden.
4.
Wie sehen Sie heute nach 35 Jahren Mauerfall die aktuelle BRD?
Für den Mitaufbau des Lebensguts war ich seit 1993 wieder halb in der Oberlausitz, und dann ab 2003 vorwiegend hier – war also ca. zwanzig Jahre mehr oder weniger weg. Wenn ich nun heute mit etwas Draufblick auf die Region schaue, kommt mir manchmal der Gedanke: Der Bruch ist schon hart, wenn man im Unterschied zu Städten wie Berlin oder Dresden sieht, wie alt die Region geworden ist. Grundsätzlich kann man sagen, dass ‚Ossis‘ und ‚Wessis‘ immer noch zu wenig aufeinander zugehen, zu wenig echtes Interesse füreinander zeigen, das gilt aber auch für sämtliche andere Spaltpilze und Krisen der letzten Jahre, welche die Menschen entzweien, wie Digitalisierung, Internet, Künstliche Intelligenz, Klimawandel, Migrationsdruck, neue Kriege. Doch klar ist: Die Menschen verbindet viel mehr als sie trennt – das gilt natürlich auch für Ost- und Westdeutsche. Die BRD ist im Zeitalter der Moderne entstanden, hat die Postmoderne überdauert und muss sich nun auch neu erfinden. Zusammen mit anderen Wissenschaftlern erforschen wir daher, wie eine neue Moderne, die man weltweit Metamoderne nennt, auch hier entstehen kann.
5.
„Besserwessis“ und „Jammerossis“ – Schnee von gestern oder aktueller denn je?
Die deutschen Leitmedien vertreten nach meiner Wahrnehmung in erster Linie eine vorwiegend westdeutsch geprägte Sicht – allerdings muss ich sagen, dass die Westdeutschen, die sich in der Oberlausitz in Spitzenpositionen behauptet haben, in der Regel große Mühe gegeben haben und dies bis heute tun. Viele Ostdeutsche sind sehr pragmatisch, die meisten Politiker denken allerdings oftmals zu sehr in Legislaturperioden. Dadurch fehlt es an langfristigen Strategien, vor allem wenn man die durchaus katastrophale demographische Lage der Oberlausitz betrachtet. Doch es ist einfach auch schwierig, die kreative und akademische Jugend in der Region zu halten. Geschickt schafft es die AfD daher an die Ohnmachtsgefühle der Menschen in Ostdeutschland zu adressieren, hier haben sich die anderen Parteien bisher schlichtweg zu wenig auf die Entwicklungen und Verwerfungen der letzten Jahre und Jahrzehnte eingestellt. Wenn man diese Krisen jedoch als spannende Herausforderungen sieht, bietet eine Region wie die Oberlausitz interessante Konstellationen und Betätigungsfelder.
1 Vgl. Maik Hosang: Homo sapiens integralis. Menschliche Manager in der Region 21. Transdisziplinäre Begriffe für eine nachhaltige Entwicklung = Habilitationsschrift, Humboldt-Universität Berlin 1999, S. 7.
2 Vgl. Die Metamoderne. Neue Wege zur Entpolarisierung und Befriedung der Gesellschaft. Hg. v. Maik Hosang und Gerald Hüther. Göttingen 2024.
Ankommen auf dem LebensGut Pommritz, 1993, Maik Hosang
„Der Bruch ist schon hart, wenn man im Unterschied zu Städten wie Berlin oder Dresden sieht, wie alt die Region geworden ist. Grundsätzlich kann man sagen, dass ‚Ossis‘ und ‚Wessis‘ immer noch zu wenig aufeinander zugehen, zu wenig echtes Interesse füreinander zeigen, das gilt aber auch für sämtliche andere Spaltpilze und Krisen der letzten Jahre, welche die Menschen entzweien, wie Digitalisierung, Internet, Künstliche Intelligenz, Klimawandel, Migrationsdruck, neue Kriege. Doch klar ist: Die Menschen verbindet viel mehr als sie trennt – das gilt natürlich auch für Ost- und Westdeutsche.“
1.
Wann und wo sind Sie geboren und aufgewachsen?
Am 16. November 1946 bin ich in Boxdorf bei Dresden geboren, heute Moritzburg. Mein Vater war Heidelberger, eingezogen mit 18 Jahren, in der Waffen – SS, dann in der SS - Division ‚Das Reich‘ eingesetzt und kämpfte vor Stalingrad als Sturmpionier. Mein Großvater mütterlicherseits hat die Wolfsschanze (in Ostpreußen als Elektriker) mitgebaut. Meine Großmutter war Kommunistin (in Seele und Verstand), ohne Parteibuch. Aus diesen unterschiedlichen Strömungen speiste sich mein familiäres Umfeld. Der Vater wurde mit dem letzten Flugzeug aus dem Kessel von Stalingrad ausgeflogen, landete in Dresden und lernte dort meine Mutter kennen. In den 1950er Jahren war ich zweimal als Kind in Heidelberg. Kinder – und Jugendsportschule Dresden folgte bei mir plus Abitur. Ich lernte Chemielaborant, habe Chemie studiert, aber abgebrochen, arbeitete dann in der Jenidze Dresden im Tabakkontor. Dann folgte der Ruf zur Fahne (NVA), 1969. Da habe ich mich gleich für zehn Jahre verpflichtet. Zuerst nach Eilenburg (Unteroffiziersausbildungsregiment V), dann zur Offiziersschule des Heeres nach Löbau (Geschütz Meister 57 mm Flak), von 1972 bis 1974 OHS und danach wurde ich Fla – Raketen - Kommandeur. 1974 kam ich in die Truppe als Leutnant in die Reutherstadt Stavenhagen. Ich war Zugführer an der Raketenleitstation, und am Ende Bataillonskommandeur. Bis 1985 war ich fünf Mal zum Gefechts Schießen in Kasachstan, dort habe ich auch Sigmund Jähn starten sehen. Das war 1978, es gab einen Riesenfeuerball in der kasachischen Steppe. Später habe ich ihn in Löbau mal an der Offiziersschule getroffen und wir tauschten uns auch bis zu seinem Tod 2019 ab und an aus. Dann sollte ich zur Militärakademie nach Kiew – da hat meine Frau gesagt: ‚Ich habe vieles mitgemacht, das aber nicht mehr‘. Daraufhin wurde ich Hochschullehrer in Löbau (OHS) für Taktik der Waffengattung (Truppenluftabwehr), parallel Diplomingenieur für Elektronik mit Studium von 1986 bis 1988 in Karl-Marx-Stadt (berufsbegleitend) und habe daselbst vor 400 hohen Offizieren meinen Abschluss verteidigt, im dortigen Auditorium Maximum. In der Arbeit ging es um eine Vorgängerversion des Internets (Nutzung der Mikrorechentechnik in der Ausbildung).
Dieser Lebensabschnitt endete abrupt 1989, exakt am 9. November 1989.
2.
Was haben Sie am 9. November gemacht? Haben Sie diesen Tag bewusst erlebt? Hat sich Ihr Leben in den nächsten Wochen und Monaten stark verändert?
Hier (in dieser Wohnung) stand noch ein Schwarz-weiß-Fernseher. Als die Mauer fiel, war mir und meiner Frau klar: ‚Das war es für uns. Ich war Offizier und sie Chefsekretärin bei der Hochschule. Die NVA und auch wir wurden nicht mehr gebraucht.‘
Das war uns am 9. November bereits klar. Die klugen (ungebundenen) Leute sind danach direkt in den Westen, der Arbeit nach, die es hier nicht mehr gab; außer leeren Versprechungen. Wir hielten uns mit ABM-Maßnahmen über Wasser, es gab Übergangsgeld und dann Arbeitslosengeld. Am 6. November 1990 hatte ich ein Burnout und war ein Jahr im Krankenhaus. Die Offiziershochschule wurde von 1990 bis 1992 abgewickelt. Im vorläufigen Dienstgrad der Bundeswehr Major war ich damit beschäftigt, die Technik und Lehrkabinette abzuwickeln, da wurde von der Bundeswehr alles mitgenommen (Polyluxe, Papier, Diplomarbeiten), kurz, alles was nicht Niet – und Nagelfest war. Nagelneue Schränke flogen dagegen aus dem Fenster (zum Schredder) – so viel zum Volkseigentum. 1989 wäre ich mit einem Trabbi dran gewesen, das wurde auch Nichts mehr; aus heutiger Sicht – Geld gespart.
3.
3. Oktober 1990: Konnten Sie die Chancen im wiedervereinigten Deutschland nutzen? Gab es bei Ihnen oder Ihrem Umfeld wirtschaftliche Verwerfungen (Stichwort: „Treuhand“?)
Ich bin mein ganzes Leben mit offenen Augen durch die Welt gelaufen, wir waren 1990 neugierig – was passiert jetzt? Wir wussten zwar was Kapitalismus/Imperialismus bedeutet – also in der Theorie – aber nicht wie das in der Praxis aussieht. Fortan waren wir damit beschäftigt in diesem neuen System den nächsten Tag zu erleben, nicht zu resignieren, da hatte ich keine Lust drauf. Es kamen so viele neue Sachen auf uns zu, die wir zu verarbeiten hatten (Gesetze, Verwaltungen, Konsum, kurz, ein anderes Wollen und doch nicht Können), es war eine spannende Zeit. Klar war jedoch: Vermögen hatten bzw. haben wir keines (auch heute noch nicht). Am wichtigsten war uns, dass unsere Kinder etwas Vernünftiges lernen. Der Sohn lernte Koch, die Tochter studierte in Cottbus, nach einer Ausbildung und dem Abitur, im Fach Sozialpädagogik. Für die Kinder ergaben sich viele Möglichkeiten. Meine Frau und ich hatten aber keinen Job mehr, daher war herumreisen (und die Annehmlichkeiten der Freiheit genießen) etc. für uns nicht drin. Wir waren nun in dem System der Arbeitsbeschaffung und Umbildung/ Neubildung, (der sogenannten Arbeitsämter) gefangen. Ich habe von 1992 bis 1994 ein berufsbegleitendes Studium beim TÜV Nord durchgeführt, hier in Löbau (Kommunaler – und Betrieblicher Umweltschutzberater). Doch bis dahin war klar: Wir wurden nicht gebraucht; parallel ging die Wirtschaft in die Brüche, die Bevölkerung sank dramatisch, ein Trend, der bis heute anhält.
Die ‚Einwohnergleichwerte’ sanken, die ‚Bundesdeutschen’ bauten viel zu große Kläranlagen und wir wurden auch da über den Tisch gezogen. Dann kamen jede Menge Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen. Parallel habe ich viel gelesen, geschrieben, viele Ehrenämter (Kreisrat, Stadtrat, Sozialberater, etc.) innegehabt. 1997/98 habe ich nochmals Sozialpädagogik über die Bildungsagenturen abgeschlossen. 1999 bekam ich dann eine ABM für den Arbeitslosenkreisverband Löbau-Zittau. Ich installierte ein Reitwegenetz für den damaligen Landkreis Löbau – realisiert wurde es allerdings nie. 2000 habe ich den Vorsitz des Arbeitslosenkreisverbands Löbau bis 2019 geführt – ehrenamtlich sechs bis acht Stunden pro Tag, Sozialberatung zu allen SGB und sozialen Problemen und die gab es zur Genüge, gemacht – ohne Einkommen, dafür aber dann mit ALG II. Im Schnitt waren das 6000 Beratungen pro Jahr – zusammen mit meinen Mitstreitern unter dem Motto: ‚Learning by Doing’.
4.
Wie sehen Sie heute nach 35 Jahren Mauerfall die aktuelle BRD?
In den 1990er Jahren gab es noch eine Aufbruchsstimmung, heute sieht das ganz anders aus. Der erste Schlag in die Magengrube war die Einführung von Hartz IV ab 2002. Damals wurden die Grenzen der Bedürftigkeit derart abgesenkt, dass das war der arme DDR-Bürger angespart hatte, schnell weg war. 1990 hatten wir vier Millionen Arbeitslose, dann gab es einen Aufschwung in den 1990ern, um 2000 änderte sich das mit Hartz IV und anderen neoliberalen Programmen. Parallel bombardierte die NATO Jugoslawien 1999 unter nicht nachvollziehbaren Gründen und der Trinker Jelzin wurde vom Westen wie ein Tanzbär durch die Manege geführt – Putin hat das geändert. Man wusste damals noch nicht, wie sich das alles außenpolitisch entwickeln wird.
Hartz IV hat bei den Ostdeutschen richtig ins Kontor gehauen. Jeder war nur noch damit beschäftigt, sein Schäfchen ins Trockene zu bringen. Politikverdrossenheit setzte ein bzw. es machten sich parallel bestimmte faschistoide Bewegungen im Osten breit – die meistens aus dem Westen stammten, die aber auf Grund der ‚Übernahmesituation‘ hier auf fruchtbaren Boden fielen. Die Benachteiligung Ost/ West ist bis heute permanent (Manche meinen, wir wären der permanente Frostboden des Westens).
Ein Beispiel: Ein Oberstleutnant der Bundeswehr hat ungefähr das Doppelte bis Dreifache wie ich Rente (als Pension). Wir haben generell ein ganz anderes Anspruchsdenken im Osten als im Westen. Materiell, strukturell und sozial ist das immer noch eine andere Welt. Und dieses Erleben wird wohl noch mindestens zwei Generationen anhalten.
Von 2005 bis 2015 saß ich für die Partei Die Linke im Kreistag. Vorher war ich aus Überzeugung Mitglied der SED – da ich davon überzeugt bin, dass dieses Gesellschaftssystem eine gute und für die Menschen eine zukunftsträchtige Alternative ist. Was daraus geworden ist wissen wir – aber daran ist nicht nur die SED schuld. Dann gab es diverse Unstimmigkeiten, der Haufen der heutigen Linken ist mir einfach zu einseitig und wie bei allen Parteien zu sehr auf den eigenen Vorteil bedacht. Bei der Gewerkschaft Verdi habe ich ähnliche Erfahrungen gemacht. Ehrenamtlich kam bei mir noch Bürgerberatung, Schöffe und andere Dinge bis heute dazu, so dass ich Vieles tun konnte, ohne über entsprechende Einkünfte zu verfügen.
5.
„Besserwessis“ und „Jammerossis“ – Schnee von gestern oder aktueller denn je?
Diese Frage ist eine Vorwurfsfrage: Denn wir sind noch weit entfernt von einem einheitlichen Deutschland: Materiell, strukturell, sozial und ideologisch sowieso. Das dauert mindestens noch …..........! Die Rentendiskussion wird sich ohnehin biologisch erledigen. Der Arbeitnehmer ist immer mehr gefragt und daher müssen die Arbeitgeber mehr zahlen, dann steigt auch wieder die Rente, wie in Österreich. Zumal die jungen Leute – und dazu rechne ich auch die 50-jährigen – eine große Weltoffenheit per se haben. Zu DDR-Zeiten hatten wir eher eine eingeschränkte Weltoffenheit und Weltsicht. Heute kann man ganz andere Sachen und Ansätze und neue Strukturen lesen und sichten. Die heute Dreißigjährigen haben die Prägung durch die Eltern und Großeltern – und letztere Erzählen auch viel (von hier und heute, von den Erfahrungen der Vereinigung aber auch von ihrem Leben in der DDR und nicht nur von der ‚STASI’). Die Kriegsgeneration hat uns nichts erzählt. Die Jungen können daher aus einem breiteren Wertevergleich schöpfen: Wie war das denn mal? Was ist heute besser als zu DDR-Zeiten und was lernen wir daraus?
"Volksauge sei wachsam", Platz der Befreiung [heute Altmarkt], 17. November 1989, Foto: Eckhard Storch
„Als die Mauer fiel, war mir und meiner Frau klar: ‚Das war es für uns. Ich war Offizier und sie Chefsekretärin bei der Hochschule. Die NVA und auch wir wurden nicht mehr gebraucht.‘“
1.
Wann und wo sind Sie geboren und aufgewachsen?
Geboren wurde ich am 28. September 1955 in Görlitz. Nach der Schule startete ich eine typische ‚DDR-Karriere‘. Zunächst war ich im Maschinen- und Anlagen- bzw. Waggonbau tätig und wechselte 1975 zum Kraftwerk Hagenwerder, dort baute ich eine Jugendbrigade im Werk mit auf. Dort habe ich mich vor allem um Pumpen, Rohleitungen und Armaturen gekümmert. Daneben absolvierte ich ein berufsbegleitendes Studium: Ingenieurspädagogik. Die Theorie fand in Zwickau, die Praxis in Magdeburg statt. 1976 oder 1977 bin ich in die SED eingetreten. Für meine Lehrmeistertätigkeit, mittlerweile als hauptamtlicher Mitarbeiter der FDJ und als Mitinitiator der „Lehrlingsfestspiele“, habe ich im Rahmen dieser Jugendbrigade sozusagen als Kollektivauszeichnung die Artur-Becker-Medaille – die höchste Auszeichnung der FDJ – erhalten.
Dann kam der große Einschnitt: 1978 wurde ich nach Prora auf Rügen zur NVA eingezogen, der schlimmste Ort der ‚Fahne‘: ‚Drei Jahre genügen – nie mehr Rügen‘ hieß es damals. Ich wurde rasch zum ‚Totaloppositionellen‘. Die Zustände waren so katastrophal, dass viele junge Männer sich umbrachten, etwa fünf bis sechs pro Jahr, da ihre Psyche den preußischen Drill nicht verarbeiten konnte. Mein erstes Schlüsselerlebnis war, als sich ein 19-jähriger Berliner aus dem Fenster stürzte, der war immerhin schon ‚Entlassungskandidat‘, also im dritten Halbjahr seines Grundwehrdienstes. Das tragische Ereignis kommentierte ein Offizier mir gegenüber mit den Worten: ‚Der (verstorbene) Genosse war nicht wehrdienstfähig.‘ Ich war einfach baff über so viel Menschenverachtung. Dazu kam 1979 der Einmarsch der Russen in Afghanistan: In Prora gab es eine Artilleriebatterie und die NVA-Offiziere wollten mit allen verfügbaren Waffen mitmarschieren bzw. mitmischen. Ein totaler Irrsinn. Dem konnte ich nur entgegnen: ‚Dieser Staat ist weder verteidigungsfähig noch verteidigungswürdig.‘ Wegen meiner Erlebnisse bei der NVA vom linientreuen "DDR"-Bürger zum Oppositionellen geworden und hatte dem Direktor der Berufsschule des Kraftwerkes Hagenwerder mitgeteilt, dass ich keine Lehrlinge mehr für längere NVA-Dienstzeiten werben würde. Und dem Wehrkreiskommando hatte ich schriftlich und mündlich mitgeteilt, dass ich einen eventuellen Reservistendienst nur noch bei den Bausoldaten antreten würde. Dem folgte ein Berufsverbot seit Juli 1980.
Die beiden geschilderten Verweigerungen führten auch dazu, dass ich 1982-1987 jährlich im Herbst zum bewaffneten Reservistendienst einberufen wurde und wegen der Verweigerung in der U-Haft des MfS in Dresden in der Bautzner Straße landete. Die dortigen Inhaftierungen dauerten zwischen 11 Tagen bis 2 Monate und 26 Tage; insgesamt 9 Monate und 12 Tage; vollständig rehabilitiert und in Trinkgeldhöhe (5500 DM + 1100 € ) wurde ich später entschädigt. Keinen einzigen Tag dieser Haft habe ich vergessen! Der Wartburg Tourist – der mich immer abholte – war mir gut bekannt.
Ich habe dann in einer Privatfirma als Schlosser/Schweißer gearbeitet. Nach der ersten Inhaftierung wurde mir 1982 ein Arbeitsplatz beim Bahnhof Görlitz zugwiesen. Dort war ich ca. zwei Jahre der am höchsten qualifizierte Transportarbeiter, konnte mich aber (erstaunlicherweise) neu qualifizieren und habe dann bis Juni 1990 im Wagendienst gearbeitet und für ‚DDR‘-Verhältnisse gut verdient. Wegen dieses relativ guten Verdienstes macht sich meine rentenrechtliche Rehabilitierung auch nur mit 3,90 € mtl. bemerkbar.
Dazu kam erschwerend folgende ‚Wachbelehrung‘, als ich noch bei der NVA war: Da der Klassenfeind, auch Kinder für seine Agitation einsetze, müsse man eben ‚notfalls auch auf Kinder schießen‘. 1985 war daher für mich Schluss bei der Fahne, ich arbeitete als Facharbeiter für das Be- und Entladen von Waggons in Görlitz. In den Jahren 1987 und 1988 hatte ich weitgehend meine Ruhe, obwohl meine Devise nach wie vor war: ‚Reservistendienst ja, aber nur beim Spaten‘ (als Bausoldat). Zum ‚Berufsverbot‘ ist noch zu sagen, dass dies mir gegenüber erst 1985 offiziell mündlich durch die SED-Kreisleitung mitgeteilt worden ist; vorher wurde es einfach durchgezogen. Der ‚Witz‘ dabei ist, dass mich der Leiter der Betriebsakademie des Bahnhofes Görlitz während meiner Qualifizierungen kennengelernt hatte und mich 1985 als Lehrkraft gewinnen wollte. Dies wurde nachdrücklich unterbunden und er hat deshalb dann auch noch selbst Probleme bekommen.
2.
Was haben Sie am 9. November gemacht? Haben Sie diesen Tag bewusst erlebt? Hat sich Ihr Leben in den nächsten Wochen und Monaten stark verändert?
1989 fanden im Mai die Kommunalwahlen statt, ich war in Görlitz einer derjenigen die gegen die offensichtlichen Fälschungen protestierten, ein Berufsverbot folgte rasch: ‚Gegen Sie wird ermittelt‘ – es folgten wieder einige Wochen in der Bautzner Straße in Dresden, ehe ich im Juni freikam. Am 9. November verfolgte ich die Pressekonferenz mit Günter Schabowski, Mitglied des SED-Politbüros. Ich war sehr überrascht und erfreut über die Maueröffnung und war direkt beim Neuen Forum dabei. Im Juni 1989 wurde ich wegen der Beteiligung an den Protesten gegen die Wahlfälschung letztmalig für elf Tage inhaftiert und mit dem Standardsatz ‚Gegen Sie wird weiter ermittelt‘ entlassen. Beruflich hatte dies keine Folgen mehr. Noch überraschender war dann der Umstand, dass am 14.November 1989 zwei Polizisten vor meiner Wohnung standen, die mich mittels Haftbefehls mitnehmen wollten. Den entgegnete ich: ‚Freiwillig komme ich nicht mit, und wenn Sie mich zwingen, ist das nicht gut für Sie!‘. Später konnte sich einer der beiden durch meine Zeugenaussage entlasten, also durch ihr friedliches, wortloses Abziehen.
3.
3. Oktober 1990: Konnten Sie die Chancen im wiedervereinigten Deutschland nutzen? Gab es bei Ihnen oder Ihrem Umfeld wirtschaftliche Verwerfungen (Stichwort: „Treuhand“?)
Ich wollte keine neue bzw. ‚bessere DDR‘ – so wie das Leuten in Leipzig wie Bärbel Bohley vorschwebte. Besonders in Erinnerung geblieben ist mir das Ende der DDR im Fernsehen am 14. Dezember 1990 als um 20 Uhr das letzte Mal die ‚Aktuelle Kamera‘ aufgeführt wurde. Rasch fand ich eine Arbeit als Sachgebietsleiter in der Stadtverwaltung von Görlitz, dort wurden Leute gesucht, denn zwei von drei flogen im Zuge der Wende von ihrem Posten. Dort habe ich 1991 meine 26jhrg. berufliche Entwicklung in der sächsischen Justiz angetreten. Über das neue Forum kam ich zur CDU, bis die Schwarzgeldaffäre um Helmut Kohl aufflog (1999). Dann war ich in der FDP, da bin ich aber auch schon lange raus. Unterm Strich war ich nach meiner Vorgeschichte froh, dass es mit der DDR vorbei war, auch wenn im Osten des wiedervereinigten Deutschlands nicht jeder das bekam, was er sich erhofft hatte.
4.
Wie sehen Sie heute nach 35 Jahren Mauerfall die aktuelle BRD?
Ich sehe die heutige Bundesrepublik sehr kritisch. Um es sinngemäß mit Bärbel Bohley zu sagen: Man wird die Methoden der Stasi genau studieren - und anwenden. Ich kenne allein vier Leute, die wegen Mitgliedschaft oder offener Sympathie zur AfD ihren Job verloren haben. Für mich ist es auch nicht nachvollziehbar, warum wegen dieses ‚Klimarettungswahns‘ die gesamte Wirtschaft an die Wand gefahren wird. Da ich aus meiner Meinung keinen Hehl mache, wurde ich seit 2019 auch nicht mehr zu den jährlichen Gedenkveranstaltungen rund um den 17. Juni 1953 [Aufstand in der DDR] und den 13. August 1961 [Mauerbau] der Stadt Görlitz eingeladen. Ich betone allerdings: Die AfD ist auch keine Lösung, das ganze Neugegründe von Parteien bringt überhaupt nichts, man sollte lieber die einzelnen Mandate stärken und die Parteien entmachten.
5.
„Besserwessis“ und „Jammerossis“ – Schnee von gestern oder aktueller denn je?
Das ist Schnee von gestern, auch wenn es immer noch ein paar ‚Besserwessis‘ gibt.
Die Landeskronstraße in Görlitz, DDR-Flagge neben Schlesien-Flagge, Oktober 2024, Foto: Sven Brajer
„Dieser Staat [die DDR] ist weder verteidigungsfähig noch verteidigungswürdig.“
1.
Wann und wo sind Sie geboren und aufgewachsen?
Ich bin 1964 hier in der Region geboren und aufgewachsen. Am 25. Januar 1986 habe ich, fünf Wochen nach der Entbindung meiner jüngeren Tochter, die Gaststätte meiner Großeltern übernommen. Damals war die noch an die staatliche Handelsorganisation („HO“) verpachtet, denn eine Privatisierung war in der DDR nicht möglich. Zu dem Zeitpunkt war ich erst 21, schüchtern und „von oben“ manipulierbar.
2.
Was haben Sie am 9. November gemacht? Haben Sie diesen Tag bewusst erlebt? Hat sich Ihr Leben in den nächsten Wochen und Monaten stark verändert?
Das war eine wilde Zeit, an dem Tag musste ich arbeiten. Wir haben gestaunt, wie schnell das mit der Maueröffnung ging – das hatte keiner für möglich gehalten. Mit der HO war es nun vorbei, der DDR-Mief musste raus, die Fichtelschänke auf Vordermann gebracht werden. Dabei war Gastronomie nach der Wende ein verdammt hartes Brot. In zwei Wochen habe ich damals manchmal bloß 1.500 D-Mark eingenommen. An einem guten Sonntag habe ich das heute mehrfach. Die Schänke wurde massiv ausgebaut: Mal wurden die Fremdenzimmer eingerichtet, mal die Terrasse überdacht, mal die Küche saniert. Im Juni 2023 kam noch ein Radler-Schuppen dazu. Ich habe also als Küchenfee keine Freiräume mehr für private oder sonstige Dinge, Gastronomie ist ein Vollzeitjob das war vor der Wende bereits so - und hinterher noch mehr.
3.
3. Oktober 1990: Konnten Sie die Chancen im wiedervereinigten Deutschland nutzen? Gab es bei Ihnen oder Ihrem Umfeld wirtschaftliche Verwerfungen (Stichwort: „Treuhand“?)
Ich bin nicht insolvent und auch nicht Millionär. Wir haben uns hier einiges aufgebaut nach der Wende, das war vorher nicht möglich. Geschenkt wurde uns aber nichts, das war alles harte Arbeit. Hier in der Gegend war es ähnlich, einiges ging in den 1990ern den Bach runter, doch vieles ist auch neu entstanden. Der Tourismus in der Oberlausitz, auch die Gäste von weiter weg, haben uns auf jeden Fall gutgetan.
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Wie sehen Sie heute nach 35 Jahren Mauerfall die aktuelle BRD?
Nach 38 Dienstjahren gegen hier in der Fichte am Ende des Jahres [2024] die Lichter aus. Uns strömt im Moment eine Flut von Gästen ins Haus, die mich alle noch mal herzlich drücken, mir Danke sagen und noch ein letztes Mal bei mir einkehren möchten. Die Schließung hat ihre Gründe – und die hängen massiv mit den politischen Entwicklungen der letzten Jahre zusammen, sowohl auf Bundes- wie auch auf Landesebene. Besonders die Ampel in Berlin setzt[e] völlig falsche Prioritäten: Ich habe keine Lust mehr, diese Politik mit meiner Arbeitskraft zu unterstützen, welche sich vorrangig um das Wohl von Faulpelzen, Sozialleistungsempfängern und Kriegstreiberei beschäftigt und unser hart verdientes Geld in alle Welt raushaut. Kaum ein Staat beutet sein Bürger so aus: Noch heute ärgere ich mich darüber, dass der Mehrwertsteuer-Satz auf Essen in Restaurants auf 19 Prozent angehoben wurde – das macht im Vergleich zu den sieben Prozent vorher über 3000 Euro mehr Abgaben aus. Für ohnehin einkommensschwache Regionen wie die Oberlausitz ist das besonders schlecht. Seit Jahren geben zahlreiche Gaststätten auf, das wird auch 2025 weitergehen. Diese Unternehmerfeindlichkeit ist aber hier auch vielen einfachen Leuten inhärent, der Neid auf Menschen, die sich mit harter Arbeit etwas aufgebaut haben, stört mich auch sehr. Die sogenannten „Corona-Krise“ war dann der Anfang vom Ende – für viele Gastronomen und mittelständische Betriebe insgesamt. Dieser ganze Hickhack um 1G, 2G, 3G – das war schon irre, da haben viele gesagt: ‚und tschüss‘ – und haben sich bis heute von den Regierenden kopfschüttelnd verabschiedet. Was mir durch die sogenannten „Maßnahmen“ an Umsatz weggebrochen ist – unglaublich! Die verantwortlichen Politiker mögen diese Zeit schon vergessen haben, viele Menschen, die ins Abseits gestellt wurden, aber nicht. Wo bleibt hier eigentlich die Aufarbeitung? Sie merken schon, von der Aufbruchsstimmung in den 1990er Jahren ist nicht mehr viel übriggeblieben – in der Berliner Politikblase scheint das aber keinen zu stören bzw. überhaupt zu interessieren.
5.
„Besserwessis“ und „Jammerossis“ – Schnee von gestern oder aktueller denn je?
Es gibt überall ‚sicke und sicke‘ [solche und solche] Menschen. Aber klar ist auch: So richtig zusammengewachsen sind Ost- und Westdeutsche noch nicht – ich weiß auch nicht, wie lange das noch dauern wird.
Abbildung 1 Fichtelschänke 1988 oder 1989, ein vorerst letzter Kneipenbesuch in der Fichtelschänke, Neufriedersdorf vor der Ausreise nach Westen, Grit Adler
„Ich habe keine Lust mehr, diese Politik mit meiner Arbeitskraft zu unterstützen, welche sich vorrangig um das Wohl von Faulpelzen, Sozialleistungsempfängern und Kriegstreiberei beschäftigt und unser hart verdientes Geld in alle Welt raushaut. Kaum ein Staat beutet seine Bürger so aus.“
1.
Wann und wo sind Sie geboren und aufgewachsen?
Geboren bin ich 1980 in Löbau und habe mein erstes Lebensjahr in Neugersdorf verbracht. Von 1981 bis 1988 zog ich mit meinen Eltern in die Ernst-Thälmann-Siedlung, auch kurz Viereck ETS genannt, in die Nähe von Pasewalk, wo mein Vater im nahe gelegenen militärischen Übungsplatz seinen Dienst verrichtete. Danach ging es zurück in die Oberlausitz, von 1988 bis 1996 nach Ebersbach in das Neubaugebiet Oberland, 1996 folgte der Umzug nach bis 2001 Neugersdorf, 1998 das Abitur Humboldtgymnasium Oberland.
2.
Was haben Sie am 9. November gemacht? Haben Sie diesen Tag bewusst erlebt? Hat sich Ihr Leben in den nächsten Wochen und Monaten stark verändert?
Zu dem Zeitpunkt war ich gerade einmal 9 Jahre alt und bin behütet aufgewachsen. Ich habe den Umbruch nur ‚nebenbei‘ mitbekommen, ohne ihn bewusst aufzunehmen. Erst in den 1990er Jahren wurden mir die Folgen stärker bewusst.
3.
3. Oktober 1990: Konnten Sie die Chancen im wiedervereinigten Deutschland nutzen? Gab es bei Ihnen oder Ihrem Umfeld wirtschaftliche Verwerfungen (Stichwort: „Treuhand“?)
Im privaten Umfeld habe ich nur gemerkt, dass mein Vater die Armee verlassen hat und arbeitslos war. Er hatte zwar eine Umschulung gemacht, jedoch war er auf Montagetätigkeiten (Wochenpendler) und gering bezahlte Jobs angewiesen. Bezüglich der Treuhand habe ich keine persönlichen Erfahrungen gemacht – einige Verwerfungen in der Region allerdings mitbekommen. 1998 bis 2000 war ich für die Bundeswehr im Auslandseinsatz KFOR (Kosovo-Truppe, kurz KFOR (englisch Kosovo Force). Privat und beruflich konnte ich die Chancen im wiedervereinigten Deutschland nutzen: Seit 2000 bin ich verheiratet und im gleichen Jahr bis 2004 absolvierte ich ein Studium an der Fachhochschule Zittau: Bachelor of Engineering sowie Diplom-Ingenieur (FH) Fachrichtung Mechatronik (mit Auszeichnung). Es kamen zwei Söhne (geboren 2004 und 2009 in Ebersbach/Sa.) zur Welt und seit 2005 bin ich wieder Neugersdorfer.
4.
Wie sehen Sie heute nach 35 Jahren Mauerfall die aktuelle BRD?
Die Republik ist leider immer noch nicht zusammengewachsen. Aus meiner Sicht bedarf es beispielsweise aus wirtschaftlicher Sicht mehr Anreiz, dass Firmenzentralen wieder zurück in den östlichen Teil der Republik ziehen. Warum soll der Standortvorteil nur für die verlängerte Werkbank gelten und nicht gleich für den ganzen Konzern bzw. die Zentrale? Hier sollte die Politik noch ihre Hausaufgaben machen und den Osten stärker fördern.
5.
„Besserwessis“ und „Jammerossis“ – Schnee von gestern oder aktueller denn je?
Aktueller denn je ist das Thema eher bei älteren und mittleren Generationen. Die Jugend aber kennt diese Unterschiede nicht mehr und differenziert nur noch wenig.
Ebersbach, Sa., Ortsteil Oberland. Oswald-Richter-Straße abgebildet aus Sicht der Spreedorfer Straße mit Einmündung Hofeweg,1970er Jahre, unbekannter Fotograf
„Die Republik ist leider immer noch nicht zusammengewachsen. Aus meiner Sicht bedarf es beispielsweise aus wirtschaftlicher Sicht mehr Anreiz, dass Firmenzentralen wieder zurück in den östlichen Teil der Republik ziehen. Warum soll der Standortvorteil nur für die verlängerte Werkbank gelten und nicht gleich für den ganzen Konzern bzw. die Zentrale?“
1.
Wann und wo sind Sie geboren und aufgewachsen?
Ich bin 1965 in Zittau geboren und hier in Mittelherwigsdorf im Pfarrhaus aufgewachsen. Es folgte die typische Biographie eines Pfarrer-Kindes in der DDR, das hat mein Bild zur sozialistischen Gesellschaft massiv geprägt. Das habe ich bereits ab dem Kindergarten gemerkt, denn in meinem christlichen Umfeld ging es deutlich freier und lebendiger zu als im Rest der Gesellschaft zu. Seitdem habe ich meine Position gefunden: Auch den Mund aufzumachen und Dinge zu kritisieren, die ich nicht gut fand, gehörte fortan dazu. Spätestens seit ich 14 oder 15 war, wurde mir klar, dass diese ‚realsozialistische‘ Gesellschaft sich verändern muss, das war bis 1989 mein Ziel.
Ich bin vorher ganz normal zur Schule gegangen. Pionier durfte ich nicht werden, im Gegensatz zu allen anderen, da war ich sieben, acht Jahre alt. Ich habe dann aber relativ schnell verstanden, dass man in der Schule oder wo auch immer nur bestimmte Sachen sagen kann ohne Repressionen zu erleiden. Ich habe dennoch gerne provoziert: Bereits in der 2. Klasse fing das an. Bei uns zuhause lief der Deutschlandfunk, es ging um Salvador Allende. Die Lehrerin verkündete, dass heute ein trauriger Tag sei, da der chilenische Präsident umgebracht wurde. Doch ich sagte: Nein, er hat sich selbst umgebracht, das habe ich im Deutschlandfunk gehört. Mein Erweckungserlebnis war der Tod vom Pfarrer Oskar Brüsewitz 1976 in Zeitz, da war ich elf Jahre alt. Er hatte sich aus Protest gegen den Kommunismus und die Unterdrückung der Kirche selbstverbrannt. Ich war mit meinem Vater am selben Tag in der Kirche im Gottesdienst: Der Pfarrer war Heinz Eggert, der spätere Innenminister von Sachsen (CDU) und mein alter Herr hatte sozusagen die Rolle als Backup inne, falls Eggert von der Kanzel verhaftet wird. Ab da war mir alles klar: Fortan musste ich stets meine Meinung sagen. Dennoch durfte ich das Abitur ablegen – und wurde gleichzeitig für vier Jahre zum Aussätzigen. Auf der EOS wurde der ideologische Nachwuchs der DDR herangezogen. In den 1980er Jahren gab es die Kampagne Schwerter zu Pflugscharen. Das ist ein Teilzitat aus der Bibel, das ab 1980 zum Symbol staatlich unabhängiger Friedensinitiativen in der DDR wurde. Auch Mitglieder meiner jungen Gemeinde haben sich den Aufnäher besorgt und getragen. Sie mussten zum Direktor, die Aufnäher mussten entfernt werden. Sofort habe ich mir das Ding draufgenäht. Daraufhin weigerte sich mein Mathelehrer, mich zu unterrichten und ich wurde von der Schule beurlaubt. Es gab einerseits viele Kämpfe mit Lehrern und Schülern, andererseits wurde ich aber auch von anderen Schülern bewundert. Nach dem Motto: ‚Der kann sagen was er will, ich darf das nicht, denn meine Eltern machen mir dann die Hölle heiß.‘
Ich schätze heute, dass damals 90 Prozent und mehr auf Linie waren, vielleicht 5 Prozent dagegen. Am 7. Mai 1989 verfolgten wir als Mitglieder kirchlicher Basisgruppen die Auszählung der Stimmen zur Kommunalwahl 1989 in den Zittauer Wahllokalen. Das Ergebnis war erschreckend: Es gab tatsächlich etwa 90 Prozent Wahlbeteiligung und 90 Prozent Zustimmung zu den Kandidaten der Nationalen Front. Da wurde völlig unverständlich, warum überhaupt noch gefälscht wurde auf 98 Prozent hoch. Wir waren etwas schockiert, als wir feststellen mussten, dass der Kommunismus in der zweiten Generation offenbar ganze Arbeit geleistet hatte. Ich habe selbst die Zeitschrift Lausitzbotin herausgegeben, war gut vernetzt mit Berlin und Dresden. Wir waren aber nur wenige, vielleicht an fünf Händen abzuzählen. Das hatte auch damit zu tun, dass die permanente Angst und Unsicherheit die Begleiter der Menschen waren. Hört die SED bzw. Stasi mit? Was passiert, wenn ich meine Meinung sage, was passiert, wenn ich nicht mitmache?
2.
Was haben Sie am 9. November gemacht? Haben Sie diesen Tag bewusst erlebt? Hat sich Ihr Leben in den nächsten Wochen und Monaten stark verändert?
Ich habe im September 1989 das Neue Forum in der Oberlausitz mitbegründet. Am 9. November 1989 hatten wir in drei Kirchen geladen, um von den Verhaftungen Dresden, Berlin und Leipzig Ende September, Anfang Oktober zu berichten. Wir wollten bezeugen, wie dieser Staat gegen Andersdenkende vorgeht. Das war ja erst fünf Wochen vorher passiert, als beispielsweise in Dresden vor dem Hauptbahnhof 1.800 Menschen verhaftet und zum Teil misshandelt wurden.
Dass, was dann am 9. November passierte, damit hat niemand gerechnet. Wir fragten eher: Wir sichern wir diese zarte Pflanze der Revolution ab? Damit nicht wieder die Krake des Kommunismus zuschlägt. 10.000 Leute kamen in die drei Kirchen und hörten die Gedächtnisprotokolle. Dann gab es eine schweigende Kerzendemonstration, vorbei am Sitz des MfS in Zittau und der SED-Kreisleitung. Dort hieß es: 'Ihr könnt alle nachhause gehen, die Mauer ist offen!' Aber niemand reagierte darauf, diese Nachricht war nicht wichtig. Es hat uns nicht interessiert, ob die Mauer steht oder fällt, es ging um die Freiheit, um die Befreiung von der SED und ihrem Kommunismus. Viel wichtiger als die Maueröffnung war, dass die SED wegkommt. Aber mit dem 9.11. war das Thema Deutsche Einheit natürlich gesetzt, ob wir das wollten oder nicht. Ich wollte damals eine bessere DDR, ohne SED und Kommunismus. Mit demokratischer, freiheitlicher, rechtstaatlicher Verfassung. Ich hatte keine Westverwandten, ich hatte gar kein Anlass darüber nahzudenken, dass wir mal ein Land waren. Das war für mich kein Thema. Ich kannte auch die BRD zu wenig, es ging mir nie darum diese zu kopieren. Aber ich habe auch recht schnell verstanden, dass unser geteiltes Land zusammengehört und die Wiedervereinigung wichtig ist. Gut erinnere ich mich an die Position des Neuen Forum in Zittau dazu, an der ich mitgearbeitet habe: Wir haben am 10. Dezember 1989 auf einer großen Demo zum Tag der Menschenrechte in Zittau formuliert, dass wir ganz klar für die Wiedervereinigung sind, aber dafür Zeit brauchen. Zeit, um zu verstehen wer wir nach zwei Diktaturen sind. Was das mit uns gemacht hat. Nur so können wir wissend um uns in eine Wiedervereinigung gehen.
3.
3. Oktober 1990: Konnten Sie die Chancen im wiedervereinigten Deutschland nutzen? Gab es bei Ihnen oder Ihrem Umfeld wirtschaftliche Verwerfungen (Stichwort: „Treuhand“?)
Dass, was mir in die Wiege gelegt wurde, habe ich genutzt: Ich habe mich eingemischt, habe viele Rede gehalten. Ich habe gesagt wie ich gerne leben will und bin 1990 bei den Wahlen angetreten für Bündnis 90, sogar für den Bundestag. Heute bin ich froh, dass ich nicht gewählt wurde, denn mir war die Region näher und wichtiger. Die Situation im Dreiländereck war damals besonders spannend, denn die Mauer nach Westen ist am 9. November gefallen, die nach Polen erst am 1. Januar 1990. Das war für mich irgendwie präsenter, ich war nicht nur geographisch näher dran. Mich hat Solidarność interessiert, die Charta 77 bzw. generell unsere Nachbaren, die Menschen in Polen und in Tschechien. In den Jahren 1991/92 war ich Fraktionsvorsitzender des Neuen Forums in Kreistag, wir waren die zweitstärkste Kraft nach der CDU. Als der damalige Bundespräsident Weizäcker und der sächsische Ministerpräsident Biedenkopf in Zittau zu Besuch waren konnte ich Ihnen sagen, dass man nicht selbstverständlich davon ausgehen könne, dass wir und unsere Nachbarn mit einander klarkommen würden. Wir waren zwar offiziell sozialistische Bruderstaaten, aber das war durch jede Menge Lügen und Tabus belastet. Etwas, was unsere Region nach 1945 sehr geprägt hat, kam in der DDR-Geschichtsschreibung gar nicht vor: die Vertreibung 1945/46.
Wir unterstützen damals die Idee, unsere Grenzsituation als Modell für das Zusammenwachsen von West- und Osteuropa zu begreifen. Die Wiedervereinigung war ja gewissermaßen der erste Schritt der EU-Osterweiterung. Im Ergebnis der Gespräche mit Weizäcker und Biedenkopf wurden mein bester Freund Andreas Schönfelder und ich in die Dresdner Staatkanzlei und in das Innenministerium in Bonn eingeladen. Zurück kamen wir mit einem Werkvertrag zur Analyse der Situation der menschlichen Begegnung im Dreiländereck D/PL/CZ. Wir haben Fragebögen entwickelt und die Menschen in vielen Dörfern befragt: Wie wollen sie leben, wie geht es Ihnen in Bezug auf ihre Nachbarn. Das Ergebnis war: Alle gucken nach dem Westen und wir sehen uns nicht. Das war die Analyse. In dieser Zeit gehörte ich zu den Mitbegründern der Euroregion Neiße: Für mich war das sowas wie ein kleines EU-Parlament, nicht zuletzt, da auch die kulturelle Vielfalt in unserer Grenzregion enorm war. Wer wurde ab 1945 eigentlich angesiedelt? Ostpolen, Ukrainer, Griechen und so weiter. Wir fragten uns: Wie können wir Polen, Deutsche und Tschechen zusammenbringen? Die Grenze war lange in den Köpfen. Die Selbstverständlichkeit, mit der wir uns heute begegnen, hat diese Zeit bis heute offenbar einfach gebraucht.
4.
Wie sehen Sie heute nach 35 Jahren Mauerfall die aktuelle BRD?
Heute sehe ich bestimmte Entwicklungen kritisch: Bei der letzten Landtagswahl konnten mit AfD, BSW und Linke Parteien mit fast fünfzig Prozent punkten, die die Welt einfach erklären: Grenzen zu, Frieden in der Ukraine, keine Waffen und gut. Schaut man auf den Kern dieser Parteien, vertreten sie mit Blick auf Demokratie zu hinterfragende Positionen. Das war schon in den 1990ern nicht viel anders, denn auch damals gab es mit SED-PDS, NPD, DVU politische Kräfte, die ein unklares Verhältnis zur Demokratie hatten und zusammen auch auf mehr als 30 Prozent kamen. Das hat damit zu tun, dass wir das Thema ‚wo kommen wir eigentlich her?‘ nie richtig besprochen haben. Wo über sechzig Jahre lang keine Freiheit herrschte verwundert so etwas nicht unbedingt. Sich einzubringen in die Gesellschaft haben die Leute nicht so richtig gelernt. Um diese Fragen haben wir uns gedrückt. Aber es ist nie zu spät. So wie wir am wir am 10. Dezember 1989 mit Blick auf heute offensichtlich nicht ganz falsch lagen. Damals wollten sechzig, siebzig Prozent der Leute die schnelle D-Mark und die Wiedervereinigung. Dass das so schnell ging, fällt uns heute auf die Füße. Ich bin immer noch Demokrat, mir gefällt das hier und jetzt vor der Folie der DDR durchaus, denn meine 25 Jahre dort haben bei mir ihre Spuren hinterlassen. Die heutige Gesellschaft hat immer die Möglichkeit sich so zu verändern wie man möchte ohne dass man vor Gericht kommt oder bestraft wird. Das war vor 1990 anders.
5.
„Besserwessis“ und „Jammerossis“ – Schnee von gestern oder aktueller denn je?
Das ist Schnee von gestern. So denke und fühle ich nicht.
Abbildung 1Thomas Pilz spricht am 6.Dezember 1989 im Rahmen des Neuen Forums in Zittau auf dem Marktplatz, Bildrechte: Thomas Pilz
„Sich einzubringen in die Gesellschaft haben die Leute nicht so richtig gelernt. Um diese Fragen haben wir uns gedrückt. Aber es ist nie zu spät. So wie wir am wir am 10. Dezember 1989 mit Blick auf heute offensichtlich nicht ganz falsch lagen. Damals wollten sechzig, siebzig Prozent der Leute die schnelle D-Mark und die Wiedervereinigung. Dass das so schnell ging, fällt uns heute auf die Füße. Ich bin immer noch Demokrat, mir gefällt das hier und jetzt vor der Folie der DDR durchaus, denn meine 25 Jahre dort haben bei mir ihre Spuren hinterlassen. Die heutige Gesellschaft hat immer die Möglichkeit sich so zu verändern wie man möchte ohne dass man vor Gericht kommt oder bestraft wird. Das war vor 1990 anders.“
1.
Wann und wo sind Sie geboren und aufgewachsen?
Ich bin im März 1963 in Zittau geboren, dort aufgewachsen und zur Schule gegangen. Auf Grund der gesellschaftlichen Verhältnisse kam ein Studium für mich nicht infrage. Ich habe daher eine Lehre zum Autoschlosser absolviert und bis Sommer 1990 in diesem Beruf gearbeitet. Sozusagen ein klassisches Nischendasein in der damaligen DDR. Zwischenzeitlich, in den 1980er Jahren musste ich den NVA-Grundwehrdienst von 18 Monaten ableisten. Dort lernte ich so richtig den ‚vormundschaftlichen Staat‘ mit seinen Feinbildern kennen. Meine Eltern fremdelten mit dem System, haben mich zu einem kritischen und geradlinigen Menschen erzogen. Schon daher war die Armeezeit eine bittere Erfahrung für mich. Die NVA, die ich als sehr preußisch geprägt empfand, hatte klar als Feindbild die Bundesrepublik bzw. die Bundeswehr indoktriniert.
2.
Was haben Sie am 9. November gemacht? Haben Sie diesen Tag bewusst erlebt? Hat sich Ihr Leben in den nächsten Wochen und Monaten stark verändert?
Die Entwicklungen Ende der 80er Jahre in der damaligen Sowjetunion, Gorbatschow und Glasnost hatten wir sehr aufmerksam verfolgt. Die wirtschaftliche Lage, aber auch die gefälschten Kommunalwahlen im Mai 1989 waren für uns ein Indiz, dass die DDR-Führung zunehmend die Kontrolle verlor. Unsere Hoffnungen bekamen nach den blutigen Ereignissen im Juni 1989 auf dem Platz des Himmlischen Friedens in Peking einen heftigen Dämpfer.
Privat waren wir im Sommer 1989 in Ungarn und hätten auch die Möglichkeit gehabt über die Grenze nach Österreich zu gehen. Aber Weggehen war keine Alternative. Dann ging es Schlag auf Schlag. Im September 1989 schloss die DDR die Grenzen zur CSSR. Für uns war damit klar: Es gab kein zurück. Entweder die oder wir. Kurz darauf habe ich mich im Neuen Forum Zittau engagiert. Am 7. Oktober – ich hatte einen Freund in Berlin – war ich in der Demonstration am Alexanderplatz (Staatsakt 40 Jahre DDR im Palast der Republik) – Sie kennen die Szene aus dem Beginn des Films Good Bye Lenin. Als die Stasi Leute verhaftete, haben wir uns untergehakt und die Internationale gesungen. Wir hatten Glück, dass es uns nicht erwischt hat. Am 16. Oktober – dafür habe ich Überstunden abgefeiert – bin ich mit Freunden nach Leipzig zur Montagsdemo (die erste mit über 100.000 Teilnehmern) gefahren. Plötzlich winkten Demonstranten offen in die laufenden Kameras, die Vopos drehten sich weg. Mir wurde klar, die Angst hatte die Seiten gewechselt. Wir sind mit um den Ring gelaufen und haben u.a. skandiert: ‚Stasi in die Produktion‘ (das Motto fanden wir später nicht mehr so gut). Paar Tage später, am 19. Oktober haben wir in Zittau in der Johanniskirche die erste große Veranstaltung des Neuen Forums organisiert. Wir wurden völlig überrannt und öffneten noch die Marien- und Klosterkirche. 13.000 Leute waren vor Ort. Es folgten zahlreiche Veranstaltungen. So hielt am 30. Oktober Manfred Stolpe einen bemerkenswerten Vortrag anlässlich 200 Jahre Französische Revolution – Freiheit- Gleichheit- Brüderlichkeit - in der völlig überfüllten Zittauer Johanniskirche. Anschließend wurde spontan um den Stadtring demonstriert. Nach diversen Verhandlungen wurde am Sonnabendvormittag, den 4. November, eine kleine Abordnung des Neuen Forums (ca. 10 Leute) vom damaligen SED-Bürgermeister und dem Rat der Stadt empfangen. Anschließend wurden wir auf dem Markt etwa 4.000 Zittauern begrüßt. Nach dem über unsere Forderungen und die Gespräche mittels Megaphons informiert wurde, zogen wir zum Abschluss wieder gemeinsam und wie immer friedlich um den Zittauer Stadtring.
Am Tag des Mauerfalls selbst war ich stark erkältet und konnte nicht an der Veranstaltung des Neuen Forums in Zittau teilnehmen. Es wurden u.a. die Gedächtnisprotokolle, die die Übergriffe vom 7. Oktober 1989 in Berlin beinhalteten, verlesen. Zu Hause vor dem Radio habe ich kurz nach 19 Uhr im RIAS (wegen der Entfernung war der Empfang von „Westsendern“ in Zittau sehr schwierig) die Meldung vernommen, dass die Berliner Mauer gefallen war. Zunächst traute ich meinen Ohren nicht!
Mein Leben hat sich danach radikal geändert, niemand hätte geahnt, dass es mit der DDR so schnell zu Ende gehen wird. Damals waren wir der Meinung, dass es einen langen Angleichungsprozess geben wird, vielleicht irgendwann eine Föderation mit der „alten“ Bundesrepublik oder sogar einen dritten Weg. Die nun gewonnene Reisefreiheit wurde sofort genutzt. Wir besuchten in Westberlin weitläufige Verwandtschaft, zwei ältere Damen – engagiert in der West-CDU und West-SPD. Das war für mich dahingehend prägend, dass die Beiden politisch diametral auseinanderlagen, aber menschlich ein Herz und eine Seele waren. Sie konnten politische Haltung von der Person unterscheiden.
Die Zeiten waren sehr bewegt, die Ereignisse haben sich überstürzt. So haben wir bei klirrender Kälte im Dezember auf der Zittauer Neustadt eine große Veranstaltung zum Tag die Menschenrechte organisiert. Unserer Plakat: ‚‚Sozialismus‘ für wen dieses Mal, nein Danke!‘ löste eine Kontroverse aus. Wir haben die Ideen des Neuen Forums u.a. im SED nahen „Klub der Intelligenz“ und im vollbesetzten Haus der Armee, der Offiziershochschule der Landstreitkräfte der DDR vorgestellt. Dabei wurden wir überhaupt nicht freundlich empfangen, teilweise wurden wir übel beschimpft. Einige Professoren der Zittauer Energiehochschule verglichen uns mit dem braunen Mob der 30er Jahre! Es gab aber auch Momente, wo wir die Luft angehalten haben: Beim Gespräch des Neuen Forums in der Offiziershochschule warf der spätere sächsische Innenminister Heinz Eggert die rhetorische Frage in den Saal: ‚Die SED eine kriminelle Vereinigung – die SED eine Vereinigung von Kriminellen?‘ Die Reaktionen waren heftig …
Es gab Mahnwachen vor der Dienststelle der Staatssicherheit und SED-Kreisleitung. Akten, Unterlagen sollten vor der Vernichtung bewahrt werden. Schließlich gab es zu dem Zeitpunkt noch immer ca. zwei Millionen SED-Mitglieder, einen funktionierenden Stasiapparat und nur in der hiesigen Offiziershochschule noch rd. 4.000 überwiegend Offizierskader unter Waffen. Vor allem mühten wir uns in nicht endenden Diskussionen durch die Höhen und Tiefen der Basisdemokratie.
Im März 1990 fanden die ersten ‚freien‘ und letzten Volkskammerwahlen statt. Das Neue Forum war bereits landesweit im Bündnis 90 aufgegangen, erhielt aber keine 5 Prozent der Stimmen. Ein sehr ernüchterndes Ergebnis.
Aber damit war nicht Schluss. Es folgten die Kommunalwahlen im Mai 1990 mit sehr guten Ergebnissen für das Neue Forum Zittau, mit der Wirtschafts- und Währungsunion wurde die D-Mark eingeführt und der Weg in die deutsche Einheit geebnet.
3.
3. Oktober 1990: Konnten Sie die Chancen im wiedervereinigten Deutschland nutzen? Gab es bei Ihnen oder Ihrem Umfeld wirtschaftliche Verwerfungen (Stichwort: „Treuhand“?)
Durch mein Engagement in der Bürgerbewegung war recht früh klar, dass wir die Entwicklung unserer Heimat nicht allein den Altkadern überlassen können, sondern diese in der Kommunalverwaltung mitgestalten wollen. Am 1. August 1990 war es so weit: bin ich von der Werkbank an den Schreibtisch, aus einer Autowerkstatt in die Zittauer Stadtverwaltung gewechselt.
Als „unverbrauchter Neuer“ wuchs einem manch besondere Aufgabe zu. Die Bevölkerung wollte nicht für Westgeld in HO und Konsum die alten Warenbestände erstehen, sondern in Supermärkten einkaufen. So bekam ich den Auftrag bekannte Handelsketten in Zittau anzusiedeln. Die Verhandlungen mit den Handelsvertretern, da waren auch paar Glücksritter dabei, hatten schon etwas von einer Landnahme. Da ich auch das zu DDR-Zeiten verstaatlichte Alteigentum der Stadt Zittau zurückholen sollte, hatte ich viele Kontakte mit der Treuhandanstalt. Es war für alle Neuland und es gab keine Blaupause, wie eine Planwirtschaft in eine Marktwirtschaft, eine Diktatur des Proletariats in eine parlamentarische Demokratie überführt wird. Die Zeit war spannend, es herrschte Aufbruchsstimmung. Im November 1990 besuchte der damalige Bundespräsident Richard von Weizäcker als erste ostdeutsche Stadt Zittau. Aus dem Rathaus konnte ich hautnah mitverfolgen, mit welcher Aufgeschlossenheit und Bescheidenheit er sich in Begleitung von nur zwei Personen durch die vielen Menschen auf dem Marktplatz seinen Weg bahnte. Heute nur noch schwer vorstellbar.
Es gab es massive Umbrüche, die auf Verschleiß gefahrenen volkseigenen Betriebe waren nicht wettbewerbsfähig, die Wirtschaft brach völlig zusammen. Ein bis dato unbekanntes Phänomen brach über die gesamte Bevölkerung herein – Entlassungen, Massenarbeitslosigkeit. Den Ostdeutschen ist sehr viel abgefordert worden, mussten einen enormen Veränderungswillen aufbringen.
Wenn ich aber anderseits daran denke, in welch trauriger Verfassung unsere Natur, Gewässer und Umwelt hier im ‚schwarzen Drei[länder]eck‘ gewesen sind, waren es seit den 1990er Jahren Quantensprünge für die Umwelt und Lebensqualität, die wir bewusst erlebt haben und mitgestalten konnten.
Persönlich war für mich die Wiedervereinigung auf allen Gebieten ein Glücksfall, ich war keinen Tag arbeitslos und fühlte mich in dem neuen Land angekommen. Beruflich konnte ich mich fortbilden und noch ein Studium erfolgreich absolvieren. In den 90ern ging plötzlich alles, es war viel Dynamik da und noch mehr Freiheit. Mit Licht und Schattenseiten. Diese Freiheit war neu für uns, genauso wie das sehr pragmatische Vorgehen in den Ämtern und Behörden in den ersten Jahren nach der Friedlichen Revolution. Ich habe in diesem Kontext viele engagierte Westdeutsche kennengelernt, die sich aktiv für den Aufbau Ost eingebracht, uns ehrlich unterstützt haben.
4.
Wie sehen Sie heute nach 35 Jahren Mauerfall die aktuelle BRD?
Ganz offen, die Brüche ab 2015 habe ich zunächst nicht so wahrgenommen. Wir hatten damals in Großschönau paar Flüchtlinge aus Syrien. Es gab eine breite Unterstützung aus der Bevölkerung. Wir hatten mehr Helfer als Flüchtlinge. Heute ist keiner mehr bei uns, nicht aus negativen Erfahrungen, sondern weil sie woanders bessere Perspektiven erhofften. Viele kamen aus Damaskus und als ich Ihnen erklärte, dass für die in Großschönau seit über 350 Jahren beheimatete Damastweberei, die syrische Hauptstadt der Namensgeber ist, fühlten sie sich willkommen.
Aber die Entwicklung in den Jahren ab März 2020 [‚Corona-Krise‘] irritiert mich nach wie vor sehr. Die rigide ‚Corona-Politik‘ hätte ich in der Bundesrepublik, in einer offenen, liberalen Gesellschaft nicht für möglich gehalten. Erst recht mit Blick auf unser Grundgesetz und die demokratischen Werte, die uns in den 1990er Jahren Dozenten aus dem Westen – beispielsweise im Angestelltenlehrgang I – nahegebracht haben. Plötzlich wurde alles, bis in die Privatsphäre hinein, ohne wirkliche parlamentarische Kontrolle, von einer Bürokratie durch Verordnungen reglementiert. Eifrige Blockwartmentalität und ein übergriffiger Staat brachen sich plötzlich Bahn. Flankiert von unkritischen, staatstragenden Medien, die völlig ihre eigentliche Rolle als 4. Gewalt im Staat verdrängten. Bittere Erinnerungen an den vormundschaftlichen Staat, die DDR, wurden wach. Klassifizierungen wie ‚Systemrelevant‘, verbale Beschimpfungen wie ‚Pandemie der Ungeimpften‘ oder dass der einst positiv besetzte Begriff ‚Querdenken‘ ins Gegenteil verkehrt und dass das in einer Demokratie erwünschte Hinterfragen nun unerwünscht wurde, haben mich schwer getroffen. Für mich war diese Zeit im Amt echt schwer, ich kann nur Maßnahmen umsetzen, von denen ich überzeugt bin. Schließlich haben mir die Großschönauer bereits viermal ihr Vertrauen geschenkt. Für mich ist selbstverständlich, dass auch ich ihnen vertraue!
Zur Angemessenheit und Verhältnismäßigkeit der ‚Corona-Maßnahmen‘ führte ich viele persönliche Gespräche mit Verantwortungsträgern, so auch mit dem sächsischen Ministerpräsidenten Michael Kretschmer und Sozialministerin Petra Köpping. Teilweise hatte ich das Gefühl, dass wir aneinander vorbeireden. Aus meiner Sicht soll unser Grundgesetz den Bürger vor einem übergriffigen Staat schützen und vor allem in Krisenzeiten das gesellschaftliche Rückgrat sein und nicht massiv und über solch lange Zeiten eingeschränkt werden. Nun haben wir massive Risse in der Gesellschaft, die auch durch die Familien gehen. Mittlerweile erleben wir eine Abfolge von Krisen. Die Szenarien sind vergleichbar, die Leute nehmen eine öffentliche und eine veröffentlichte Meinung wahr, ein Schwarz-Weiß-Denken, Meinungskorridore werden, mitunter eifrig und im vorauseilenden Gehorsam, eingeschränkt. Statt zu versuchen die Gesellschaft zu versöhnen, werden wieder Mauern hochgezogen. Eine unabhängige und ehrliche Aufarbeitung der ‚Corona-Politik‘ wäre ein erster Schritt in Richtung Versöhnung. Bis auf paar wohlfeine Ankündigungen bisher leider Fehlanzeige.
5.
„Besserwessis“ und „Jammerossis“ – Schnee von gestern oder aktueller denn je?
Es ist keine neue Erkenntnis: Immer gibt es auf allen Seiten vernünftige und weniger vernünftige Leute. Sogenannte Jammerossis und Besserwessis sind auch mir begegnet. Im Großen und Ganzen nehme ich in den letzten 3 ½ Jahrzehnten ein Zusammenwachsen wahr, vor allem bei der jungen Generation. Möglicherweise ist in der ‚Corona-Zeit‘ die Schere wieder größer geworden. Hier spielen aus meiner Sicht die unterschiedlichen Lebenserfahrungen eine nicht geringe Rolle. Hinzu kommt, dass viele Medien unvermindert negative Klischees über ‚den Osten‘ pflegen. Dabei wird übersehen, dass es nicht ‚den Osten‘ gibt genauso wenig wie den ‚Westen‘. Wie bereits gesagt, den Ostdeutschen ist sehr viel abverlangt worden. Bei Bewerbungen, in den Lebensläufen berühren mich bis heute die starken Brüche in den Biographien, viele ältere Ostdeutsche mussten sich beispielsweise von Weiterbildung zu Weiterbildung hangeln. Nach 30 Jahren fühlten sich viele in der Bundesrepublik wirtschaftlich angekommen. Dann kam Corona und der Krieg in der Ukraine. Auch die angedichteten Sympathien der Ostdeutschen für Putin sind quatsch, da man angeblich durch die Sowjetunion den Russen im Osten stärker als im Westen verbunden war. Doch die Leute hier wissen: Putin, der sicher ein ganz anderes Staatsverständnis hat, muss ein riesiges Land zusammenhalten – diese Realitäten nimmt man hier durchaus wahr und hat sich einen kritischen Blick ‚nach Oben‘ bewahrt, nimmt nicht jede Meldung jubelnd zur Kenntnis. Die überwiegende Sonderstellung und Selbstständigkeit der Oberlausitz in früheren Zeiten wird mitunter als Begründung angeführt, dass hier eine eher gering ausgeprägte Staatsgläubigkeit anzutreffen sei.
Jedenfalls gibt’s nach 35 Jahren im deutschen Miteinander immer noch Luft nach oben. Miteinander reden, vor allem einander zuhören und sich persönlich austauschen, kennenlernen wären nach wie vor mein Ansatz, und zwar für ‚beide Seiten‘. Was wir nicht brauchen, ist ein ‚Ostbeauftragter‘. Schon die Amtsbezeichnung steht nicht für ein Zusammenwachsen, eher für das Verwalten einer Minderheit. Das finden nicht wenige diskriminierend.
PS. Mit allen reden, einander zuhören, vor allem mit eingefleischten Kommunisten und Stalinisten war manchmal sehr schmerzhaft aber aus meiner Sicht ein Garant für das Gelingen der Friedlichen Revolution. Dabei muss man sich nicht verbiegen und auch nicht gemein machen.
Frank Peuker in seinem Büro in Großschönau, Juli 2024, Foto: Sven Brajer
„Wir waren wenige, viele sind übriggeblieben“ (Wolf Biermann)